Ein Rückblick mit Haltung: Tocotronic in der ausverkauften Kesselhalle Bremen – 10. April 2025
„Hallo Schlachthof! Hier haben wir vor 30 Jahren begonnen – und ohne euch stünden wir jetzt nicht hier.“ Ein Satz, wie er nur von Dirk von Lowtzow kommen kann: lakonisch, aufrichtig, voller Geschichte – und mit einem sanften Hauch von Pathos. Es ist ein Moment der Rückbesinnung, als Tocotronic am Mittwochabend in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kesselhalle des Bremer Schlachthofs auf die Bühne treten. Drei Jahrzehnte nach ihren Anfängen kehrt die Band an einen ihrer Ursprungsorte zurück – und präsentiert ihr vierzehntes Studioalbum Golden Years mit einem Konzert, das zwischen Würde, Widerstand und Witz pendelt.
Lieder über das Ende – und über das Weitermachen
„Dann fangen wir doch mit einem Lied über den Tod an“, sagt von Lowtzow zu Beginn. Der Auftakt des Konzerts gehört dem neuen Song Der Tod ist nur ein Traum, einer nachdenklichen Meditation über Vergänglichkeit, Verlust und vielleicht auch Hoffnung. Keine einfache Eröffnung – aber genau das ist das Wesen dieser Band: Sie verweigert sich der einfachen Geste. Direkt im Anschluss folgt Bleib am Leben, ein Appell an die Lebenslust, der wie ein Gegenpol wirkt. Zwei Lieder, die gegensätzlicher kaum sein könnten, und doch dieselbe Frage stellen: Was macht das Leben aus, wenn alles brüchig wird?
Politische Klarheit, poetische Sprache
Auch nach 30 Jahren bleibt Tocotronic eine Band, die Haltung zeigt – und das ohne Parolen. In Denn sie wissen, was sie tun, wohl dem zentralen Song des neuen Albums, geht es um den Rechtsruck, um die AfD, um neue Formen des Faschismus. Von Lowtzow nennt die Dinge beim Namen: „Diese Leute sind einfach in jeder Hinsicht niederträchtig.“ Und trotzdem: Kein Schaum vorm Mund, keine Agitation – sondern der Versuch, das Unaussprechliche mit Würde zu kontern. Wenn er später singt: „Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt“, dann wird klar, worum es geht: Um Zivilität, nicht um Zynismus. Um eine linke Idee, die sich nicht aufgibt.
Ein Abend der Verbundenheit
Zwischen den Songs fordert von Lowtzsow sein Publikum auf, sich gegenseitig die Hände zu reichen. „Klatscht mal für euch selbst“, ruft er, dann: „Gebt der Person neben euch die Hand oder eine Umarmung.“ Es ist kein billiger Animationsversuch, sondern ein subtiles Plädoyer für Zusammenhalt. Später, während der Zeilen „Du streichst mir über mein Gesicht / Gegen die Welt, gegen den Strich“, fordert er dazu auf, einander Zärtlichkeit zu schenken. Widerstand kann auch sanft sein – Tocotronic zeigen, wie das geht.
Felix Gebhard: Ein würdevoller Vertreter
Rick McPhail, der langjährige Gitarrist, fehlt auf dieser Tour aus gesundheitlichen Gründen. Sein Ersatz, Felix Gebhard (u.a. Einstürzende Neubauten), macht seine Sache großartig. Besonders bei Sie wollen uns erzählen glänzt er an der Mundharmonika – von Lowtsow augenzwinkernd zur „Zahnspange“ erklärt und kurzerhand zum „Protestsong gegen neoliberale Kieferorthopädie“ uminterpretiert. Humor war bei Tocotronic immer auch eine Form der Gegenwehr.
Zwischen Punk und Philosophie
Spätestens im letzten Drittel des Konzerts werden die Gitarren lauter, die Rhythmen schroffer. Digital ist besser, Let There Be Rock, Das Geschenk – alte Songs, rohe Energie, ein Rücksturz in die Neunziger. Und wieder diese Ambivalenz: Nostalgie, ja, aber ohne Verklärung. Punk als Haltung, nicht als Mode.
Der Höhepunkt? Vielleicht Explosion, als das Publikum zwischen Euphorie und Erschöpfung taumelt, als sei der Song ein Schlusspunkt hinter einer Jugend, die man gar nicht mehr hat – aber für einen Abend noch einmal erleben durfte. Vielleicht ist genau das gemeint mit den Golden Years: kein Rückblick auf eine Zeit, die vorbei ist, sondern ein Versuch, sie in der Gegenwart noch einmal zu beschwören.
Tocotronic sind nicht einfach eine Rockband. Sie sind ein kulturelles Projekt, das sich zwischen Philosophie, Pop und Politik bewegt – ohne sich je gemein zu machen. Ihre Texte zitieren keine Theorie, sie durchdringen sie. Ihre Musik ist kein Zitat vergangener Stile, sondern eine Weiterentwicklung des eigenen Tons. Tocotronic gelingt das seltene Kunststück, sich treu zu bleiben und sich doch weiterzuentwickeln. Zwischen Garage und Gesellschaftskritik, zwischen Adorno und Akkordwechsel. Diskursrock, der nicht belehrt, sondern berührt.
Fazit
Sind das nun die „Goldenen Jahre“? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber es war ein goldener Abend – voll von Musik, die uns daran erinnert, dass Pop klug sein darf, dass Haltung nichts mit Härte zu tun hat und dass Widerstand manchmal einfach nur bedeutet: nicht aufgeben. Nicht verstummen. Nicht allein sein. Tocotronic sind älter geworden. Und dabei kein bisschen leiser. Gut so.
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