1. Diagnose: Die hegemoniale Formation des progressiven Neoliberalismus
In der Gegenwart zeichnet sich in Deutschland eine neue hegemoniale Formation ab, die unter dem Begriff des progressiven Neoliberalismus zusammengefasst werden kann. Dieser Begriff beschreibt die paradoxe Allianz zwischen neoliberaler Wirtschaftslogik und progressiven sozialen Forderungen, insbesondere in den Bereichen Geschlechtergerechtigkeit, Antirassismus und LGBTQ-Rechte. Seit den 2010er Jahren werden diese emanzipatorischen Anliegen zunehmend in neoliberale Governance-Strategien integriert, etwa durch Diversity-Programme in großen Unternehmen oder durch die Repräsentationspolitik von Parteien wie den Grünen.
Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, wo Identitätspolitik oft direkt mit den Interessen des Finanzkapitals und der Tech-Industrie verschmilzt – ein Phänomen, das als „woke capitalism“ bezeichnet wird –, erfolgt die Integration in Deutschland im Rahmen eines zunehmend entkernten Sozialstaates. Dieser Sozialstaat, der seit der Agenda 2010 systematisch umgebaut wurde, kann jedoch nicht mehr als sozialer Schutzraum fungieren. Stattdessen geht es um die Verwertung sozialer Differenz und die symbolische Anerkennung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ohne die verbindliche Integration sozialer Gerechtigkeit. In diesem Kontext erleben migrantische und marginalisierte Communities eine oberflächliche symbolische Anerkennung, während gleichzeitig die materiellen Bedingungen für die Prekarisierten – etwa in der Pflegebranche, im Transportwesen oder in der Fleischindustrie – verschärft werden.
Die Verbindung zwischen neoliberaler Wirtschaftsstruktur und progressiven Identitätspolitiken ist hierbei keineswegs eine harmonische Verschmelzung, sondern eine funktionale Integration. Die wachsende Bedeutung von Diversität und Inklusion als Unternehmensstrategien stabilisiert ein Wirtschaftsmodell, das mit der fortschreitenden Prekarisierung und Privatisierung sozialer Dienstleistungen, insbesondere in Bereichen wie Care-Arbeit, einhergeht.
2. Das Dilemma der zweidimensionalen Gerechtigkeit
Ein zentrales Problem des progressiven Neoliberalismus ist die ideologische und praktische Trennung von sozialen und kulturellen Kämpfen. In der Tradition von Nancy Fraser lässt sich diese Trennung als ein Dilemma der zweidimensionalen Ungerechtigkeit beschreiben. Fraser unterscheidet zwischen der sozioökonomischen Dimension von Ungerechtigkeit – die sich in der Verschärfung von Klassenunterschieden und der Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen manifestiert – und der kulturellen Dimension von Ungerechtigkeit, die sich in rassistischen Diskriminierungen, geschlechtsspezifischer Ungleichheit oder der Marginalisierung von LGBTQ-Personen äußert.
Das zentrale Problem liegt darin, dass der neoliberale Kapitalismus diese beiden Dimensionen nicht nur koexistieren lässt, sondern sie sogar aufeinander verweist, ohne jedoch deren strukturelle Verbindung aufzulösen. Auf der einen Seite verschärft der Kapitalismus die sozioökonomische Ungleichheit, etwa durch eine zunehmende Lohnspreizung und die Explosion der Mieten. Auf der anderen Seite werden kulturelle Hierarchien, etwa durch rassistische Polizeikontrollen oder den Gender Pay Gap, weiter reproduziert. In der politischen Reaktion der Linken manifestiert sich eine Fragmentierung: Auf der einen Seite gibt es die „Sozialromantiker“, die eine Umverteilung der Ressourcen fordern, ohne jedoch die kulturellen Dimensionen von Ungleichheit zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite stehen die „Identitätsmoralisten“, die kulturelle Anerkennung und Intersektionalität als Ersatzreligion stilisieren, ohne die materielle Dimension der Gerechtigkeit zu adressieren.
Dies wird besonders deutlich an der Migrationsdebatte: Während liberale Kräfte „Willkommenskultur“ und Diversität als Management-Tools feiern, bleibt die tatsächliche Ausbeutung von Migrant*innen, insbesondere in den prekären Arbeitsbereichen, weitgehend unsichtbar. Gleichzeitig missbrauchen rechte Parteien die sozialen Ängste der „Abgehängten“, um rassistische Grenzpolitiken zu legitimieren und ein autoritäres, nationalistisch ausgerichtetes Weltbild zu propagieren. Dieses perverse Bündnis zwischen neoliberalen und autoritären Kräften, das Fraser als eine symbiotische Beziehung zwischen neoliberalen Ökonomien und autoritären Regimen beschreibt, wird so zur Grundlage für die weitere Spaltung der Gesellschaft.
3. Die soziale Frage und die autoritäre Versuchung
Die Analyse von Fraser verweist auf einen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Schwächung universeller Umverteilungspolitiken und der Normalisierung militaristischer, sicherheitspolitischer Diskurse. In Deutschland zeigt sich dies in einer Verschiebung der politischen Prioritäten: Statt sozialer Sicherung – wie etwa Mietpreisbremsen oder besserer Gesundheitsversorgung – liegt der Fokus auf „Sicherheit“ und „Grenzschutz“. Dieser Fokus auf Sicherheitslogik, der beispielsweise von der CDU als Antwort auf soziale Problemlagen vorgeschlagen wird, verstärkt das autoritäre Potenzial der Gesellschaft. Gleichzeitig betonen neoliberale Akteure wie die FDP den Individualismus und die Rolle des „Leistungsträgers“ als Antwort auf gesamtgesellschaftliche Krisen wie Klimawandel und Altersarmut.
Diese Umstellung auf eine Sicherheitslogik und die ideologische Einbindung von Identitätspolitiken, die entweder individualisierte Empowerment-Strategien (wie der „Girlboss-Feminismus“) oder exklusivistische, völkische Abgrenzungen (wie die Darstellung von „Klimaflüchtlingen“ als Bedrohung) propagieren, tragen zur Entsolidarisierung bei. Die neoliberale Ökonomisierung des Politischen fördert so die Entstehung einer fragmentierten Gesellschaft, in der die soziale Frage zunehmend zugunsten individueller und kultureller Konflikte verdrängt wird.
4. Gegenhegemoniale Perspektiven: Klassenpopulismus und Commoning
Um diese Entwicklung zu überwinden, bedarf es einer radikaldemokratischen Gegenhegemonie, die sich nicht nur gegen den progressiven Neoliberalismus stellt, sondern auch eine neue, integrative Form von politischer Praxis entwickelt. Diese Gegenhegemonie muss in der Lage sein, die Spannungen zwischen den Dimensionen der Anerkennung und Umverteilung zu überwinden und diese miteinander zu verbinden. Drei grundlegende strategische Achsen lassen sich dabei identifizieren:
- Re-Politisierung der Ökonomie: Die sozialen Kämpfe um Mindestlöhne, Mieten und Gesundheitsversorgung müssen eng mit antirassistischen Bewegungen verschränkt werden. Dies kann durch die Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfen von Migrant*innen, wie sie zum Beispiel bei Lieferdiensten beobachtet werden, geschehen. Solche Kämpfe verdeutlichen, dass soziale und kulturelle Ungleichheit in engem Zusammenhang stehen und gemeinsam adressiert werden müssen.
- Transformation statt Affirmation: Statt einer Politik, die lediglich auf Quoten und repräsentative Diversität setzt, sollte der Fokus auf der Entwicklung von kollektivem Eigentum und demokratischen Kontrollmechanismen liegen. Dies könnte durch die Förderung von Genossenschaften, Vergesellschaftung von Infrastruktur und der Demokratisierung von Arbeitsprozessen geschehen. So wird eine tiefgreifende Transformation der ökonomischen Strukturen angestrebt, die Care-Arbeit und Produktionsprozesse nicht nur anerkennt, sondern in ihre soziale Reproduktion integriert.
- Transnationale Solidarität: Die Klimabewegung muss sich mit den Kämpfen gegen das europäische Grenzregime verbinden. Ein „Green New Deal“ muss transnational gedacht werden, um sowohl die sozialen und ökologischen Probleme als auch die kolonialen und imperialistischen Verhältnisse zu überwinden. Nur durch eine transnationale Perspektive wird es möglich sein, eine umfassende sozial-ökologische Transformation zu erreichen.
5. Schluss: Über den progressiven Neoliberalismus hinaus
Die deutsche Identitätspolitik steht an einem entscheidenden Scheideweg. Es besteht die Gefahr, dass sie sich in einer postsozialistischen Situation verfestigt, in der Individuen um Aufstiegschancen innerhalb des bestehenden Systems kämpfen – ohne jedoch eine grundlegende Veränderung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse anzustreben. Alternativ könnte eine „revolutionäre-reformistische“ Praxis entwickelt werden, die nicht nur soziale Ungleichheit und kulturelle Anerkennung als getrennte Sphären begreift, sondern eine umfassende Umverteilung von Ressourcen und Lebensweisen fordert. Hierfür ist die Entwicklung einer Politik des Commoning erforderlich, die nicht nur ökonomische Verhältnisse, sondern auch Lebensweisen und soziale Beziehungen neu organisiert – vom Zugang zu Bildung und Gesundheit über das Bahnnetz bis hin zur digitalen Infrastruktur.
In Frasers Analyse würde dies schließlich als die Notwendigkeit beschrieben, „die soziale Sphäre als eine Konfliktzone neu zu konstituieren – nicht durch eine Versöhnung der Kategorien Anerkennung und Umverteilung, sondern durch deren antagonistische Vermittlung in einem radikal demokratischen Rahmen“.
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