„Nur noch eine Zahl“

Fishel Rabinowicz und die Kunst des Überlebens

Es gibt Biografien, die allein durch ihr bloßes Erzählen erschüttern. Fishel Rabinowicz’ Leben ist eine solche Biografie – aber es ist mehr als das: Es ist ein Dokument des Überlebens, ein stiller Triumph der Erinnerung über das Verstummen, ein Beweis dafür, dass Kunst nicht bloß Schönheit, sondern Notwendigkeit sein kann.

Geboren am 9. September 1924 im polnischen Sosnowiec als drittes von zehn Kindern einer jüdischen Familie, wuchs Rabinowicz in einem Milieu auf, das von Zusammenhalt und kulturellem Reichtum geprägt war. Schon früh zeigte sich seine künstlerische Begabung – vom Vater gefördert, aber in eine Welt hineingeboren, die ihn bald ihrer Grundlagen berauben sollte.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen im Jahr 1939 zerbrach diese Kindheit jäh. Die Shoah, für viele später ein unfassbares Kapitel der Geschichte, war für Rabinowicz tägliche Realität. 1941 wurde er als erstes Familienmitglied deportiert, verschleppt in ein System, das ihn systematisch entmenschlichte. In Kittlitztreben, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, wurde ihm die Häftlingsnummer 19037 tätowiert. „Ab diesem Moment war ich kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Zahl“, erinnerte er sich später. Diese Zahl wurde zum Symbol seiner Auslöschung – aber auch, Jahrzehnte später, zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Wiedergeburt.

Rabinowicz überlebte. Den Todesmarsch im Februar 1945. Das Lager Buchenwald. Die Befreiung durch US-Truppen, als er nur noch 28,5 Kilogramm wog – eine physische Hülle, aber mit einem ungebrochenen Willen zum Leben. Von seiner Familie blieben zwei Brüder – der Rest, 31 Angehörige, wurde ermordet. Was bedeutet Erinnerung, wenn sie nur in Trümmern erhalten ist?

Die Antwort darauf fand Rabinowicz nicht sofort. Erst einmal musste er heilen – körperlich, seelisch. 1947 kam er zur Genesung in die Schweiz, nach Davos – einen Ort, der wie kaum ein anderer zwischen Erschöpfung und geistiger Neubesinnung oszilliert. Dort begann sein zweites Leben. Eine Ausbildung zum Schaufensterdekorateur, ein Studium an der Kunstgewerbeschule in Zürich, ein neues Zuhause im Tessin, Ehe, Vatersein. Doch das Trauma blieb, sedimentiert unter Jahrzehnten des Schweigens.

Erst nach seiner Pensionierung begann Rabinowicz, seine Erlebnisse künstlerisch zu verarbeiten. Seine Grafiken, Scherenschnitte und Papercuts sind keine illustrative Erinnerungskunst – sie sind formgewordene Traumata. Zahlen, Zeichen, Symbole – keine narrativen Erzählungen, sondern stille Konfrontationen mit dem Unsagbaren. In dieser Formensprache wird deutlich, was mit Worten kaum auszudrücken ist: das radikale Verstummen der Humanität im Konzentrationslager, das Grauen der Reduktion des Menschen auf bloße Funktion, auf eine Nummer.

Doch seine Werke sind keine bloßen Anklagen. Sie sind Zeugnisse einer ethischen Verpflichtung: gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit. Rabinowicz war einer der wenigen Überlebenden in der Schweiz, die als bildende Künstler arbeiteten – und vielleicht der einzige, der aus dem eigenen Schweigen heraus eine so eindrückliche visuelle Sprache entwickelte. Er trat in Schulen auf, hielt Vorträge, engagierte sich gegen Antisemitismus. Die Kunst wurde für ihn nicht nur Ausdruck, sondern Verantwortung.


Die Sprache der Zeichen – Fishel Rabinowicz’ künstlerische Verarbeitung des Holocausts

Fishel Rabinowicz‘ Werk ist eine zutiefst persönliche und zugleich universelle Auseinandersetzung mit den traumatischen Erfahrungen des Holocausts. In einer Zeit, in der der Holocaust oft in den Rahmen einer breiten kollektiven Erinnerung eingeordnet wird, bleibt Rabinowicz’ Kunst ein Mahnmal für das individuelle Leid. Sie ist keine simplifizierte Erinnerungskunst, sondern eine komplexe und kraftvolle Antwort auf das Grauen der Shoah.

Die hebräischen Buchstaben, Zahlen und geometrischen Formen, die Rabinowicz verwendet, sind nicht nur ästhetische Elemente, sondern laden die Werke mit einer tiefen symbolischen Bedeutung auf. Die Zahl 613, die Zahl der Gebote in der Tora, findet sich immer wieder in seinen Arbeiten. Sie verweist auf die jüdische Identität und die religiöse Struktur, die für Rabinowicz vor dem Holocaust eine zentrale Rolle spielten. Doch nach den Erlebnissen im Lager, nach der Reduktion des Menschen auf eine Nummer, bekommt diese Zahl eine völlig neue Bedeutung. In Rabinowicz‘ Kunst steht sie nicht nur für das jüdische Gebotssystem, sondern auch für die Zerstörung dieser Ordnung – eine Zerstörung, die sich in jeder seiner Arbeiten abzeichnet.

Durch die Technik des Scherenschnitts, die Rabinowicz meisterhaft beherrschte, drückt sich diese Zerstörung in der Zerbrechlichkeit des Mediums selbst aus. Der Scherenschnitt als solches wirkt auf den ersten Blick wie eine fragliche Technik, als ob die Geschichte durch das Ausschneiden und die Reduktion zum Schweigen gebracht werden könnte. Doch Rabinowicz’ meisterhafte Verwendung dieser Technik zeigt genau das Gegenteil: In den flimmernden Schatten, die durch das Papier geschnitten werden, lebt das Trauma weiter. Die Zerbrechlichkeit des Papiers wird zur Metapher für die Fragilität des menschlichen Lebens.

Ein zentrales Werk von Rabinowicz ist das Bild „Survivor“ aus dem Jahr 1994. Hier verweben sich hebräische Buchstaben mit geometrischen Mustern und Zahlen zu einer chaotischen Szene, in der die Flucht vor dem Grauen spürbar wird. Der Buchstabe „Aleph“, der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, steht in diesem Werk für den Künstler selbst. Er erscheint als Anker in einer Landschaft des Chaos, das durch die Zerstörung des Holocausts geprägt ist. In der oberen rechten Ecke schwebt der Buchstabe, erhaben und doch in den Strudel des Zerstörens eingebunden. Diese Darstellung der Zerrissenheit zwischen Erinnerung und Trauma, zwischen Überleben und Verlust, ist ein starkes Statement zur Unvereinbarkeit der menschlichen Erfahrung mit den geschehenen Verbrechen.

Die Auseinandersetzung mit Zahl und Buchstabe ist nicht nur eine direkte Reaktion auf seine eigene Erfahrung als Häftling, sondern auch eine Rückbesinnung auf die jüdische Mystik und das kabbalistische Denken. In der Kabbala hat jedes hebräische Zeichen eine tiefere, metaphysische Bedeutung. Rabinowicz integriert diese mystische Tradition in seine Arbeit und verweist auf eine spirituelle Dimension, die den Holocaust nicht nur als historischen Moment begreift, sondern auch als eine metaphysische Krise des Menschseins.

Doch Rabinowicz bleibt nicht in einer mystischen, abstrakten Kunst verhaftet. Im Gegenteil, seine Werke sind zugleich eine bittere Auseinandersetzung mit der Realität der Shoah. Das Verwischen und Zerstören von Formen, die in seinen Papercuts und Grafiken immer wieder auftauchen, ist eine visuelle Metapher für den Prozess der Erinnerung und des Vergessens. Es ist eine Erinnerung, die niemals in klaren, geschlossenen Formen erfasst werden kann. Die Unvollständigkeit seiner Werke spiegelt wider, was Worte und Bilder allein nicht begreifen können.

In der internationalen Kunstszene fanden Rabinowicz’ Arbeiten Anerkennung und wurden in Ausstellungen gezeigt, die sich mit der Erinnerung an den Holocaust und seiner künstlerischen Verarbeitung beschäftigten. Der Künstler wird in zahlreichen Rezensionen und Besprechungen für seine Fähigkeit gelobt, das Ungreifbare fassbar zu machen. Rabinowicz’ Werke konfrontieren den Betrachter nicht mit eindeutigen Antworten, sondern lassen Raum für die Ungewissheit des Erinnerns.

Die unvollständige, fragmentierte Darstellung des Erinnerns lässt sich mit den Arbeiten anderer Künstler und Theoretiker vergleichen, die sich ebenfalls mit der Shoah und deren künstlerischer oder intellektueller Verarbeitung befassten, wie etwa dem Filmemacher Claude Lanzmann oder dem Philosophen Giorgio Agamben. Beide betonen das „Unvertretbare“ der Erinnerung und die Schwierigkeit, das Unfassbare zu begreifen – eine Haltung, die sich auch in Rabinowicz’ Werk spiegelt. Während Lanzmann in Shoah das Schweigen der Zeugen thematisiert, liefert Agamben mit seinem Konzept des „Homo Sacer“ und dem „Lager als Nomos der Moderne“ einen theoretischen Rahmen, um die radikale Entmenschlichung in diesen Räumen zu begreifen. Was Agamben als Entzug der politischen Subjektivität beschreibt – das „bloße Leben“ –, übersetzt Rabinowicz in visuelle Sprache: Der Mensch als Zahl, als Zeichen, als Fragment.

Mit seinen Arbeiten nimmt Rabinowicz nicht nur an der künstlerischen Reflexion des Holocausts teil, sondern stellt auch eine grundlegende Frage: Wie können wir Erinnerungen an das Unvorstellbare bewahren, ohne sie in vereinfachte Narrative zu pressen? Für Rabinowicz war die Kunst ein notwendiges Mittel, um diese Erinnerung nicht nur für sich selbst, sondern auch für kommende Generationen lebendig zu halten. In seiner Kunst wird das Unausgesprochene zum entscheidenden Moment – genau dort, wo Erinnerung und Trauma miteinander kollidieren.

Am 9. September 2024 wurde Fishel Rabinowicz 100 Jahre alt. Er starb kurz darauf – als Zeitzeuge, Künstler, Überlebender. Sein Werk bleibt: als mahnendes Archiv der Gewalt und zugleich als Feier der menschlichen Widerstandskraft. Rabinowicz hat uns gezeigt, dass selbst dort, wo Sprache versagt, Formen sprechen können. Dass Kunst nicht heilt, aber trägt. Und dass eine Zahl – wie 19037 – nicht nur das Zeichen eines Schicksals sein kann, sondern der Anfang einer Antwort: Ich bin da. Ich erinnere. Ich gestalte.


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