Zur Dialektik von Mythos und Text: Roland Barthes im Spiegel der Kritischen Theorie

Es ist das Privileg kritischer Theorie, im Schatten des Gegebenen das Ungegebene, im scheinbar Selbstverständlichen das historisch Gewordene, mithin das gesellschaftlich Vermittelte aufzuspüren und zu entziffern. Diese Haltung impliziert nicht nur ein Misstrauen gegenüber dem Sichtbaren, sondern eine methodische Skepsis, die sich weigert, Erscheinung und Wesen zu identifizieren. In diesem Sinne ist die kritische Theorie nicht bloß Analyse, sondern ein Akt der Negation: ein Beharren auf dem Anderen, dem noch nicht Eingelösten, dem unterdrückten Potenzial. Roland Barthes, dessen semiotische Lektüren die Mythen des Alltags in ihrer trügerischen Natürlichkeit entlarven, steht in einer Tradition der Aufklärung, die das Banale nicht hinnimmt, sondern als Chiffre gesellschaftlicher Verblendung dechiffriert. Seine Texte entziehen dem Alltäglichen den Schleier der Unschuld, indem sie zeigen, wie sehr auch das scheinbar Unbedeutende ideologisch aufgeladen ist – etwa im Werbeslogan, im Popstar, im Kleidungsstil. Doch die Nähe von Barthes’ Projekt zur Intention der Kritischen Theorie – wie sie exemplarisch bei Adorno und Löwenthal greifbar wird – ist untrennbar verbunden mit Differenzen, die sich im Modus der Reflexion, im Begriff der Autonomie und im Verhältnis von Subjekt und Objekt manifestieren. Diese Differenzen sind nicht bloß terminologischer Natur, sondern betreffen das Grundverständnis von Kritik selbst – ob sie sich als systematisch-dialektisches Durchdringen von Totalität oder als ästhetisch-semiotisches Spiel mit ihren Bruchstellen versteht.

Barthes’ Analyse der Mythen, jener sekundären Zeichensysteme, die das kulturell Produzierte als Natur ausgeben, ist von einer luziden Skepsis getragen, die dem Verdacht Adornos gegen die „zweite Natur“ der Gesellschaft verwandt ist. In beiden Fällen geht es um eine Ideologiekritik, die nicht an der Oberfläche der Begriffe stehenbleibt, sondern in die Strukturen der Wahrnehmung, der Alltagssprache, der ästhetischen Codes eindringt. Diese zweite Natur – jenes zur Selbstverständlichkeit erstarrte Ergebnis gesellschaftlicher Praxis – erscheint nicht als Zwang, sondern als Normalität; darin liegt ihre Wirkmacht. Beide entlarven eine Welt der Zeichen, Waren, Bilder und Diskurse, die sich als selbstverständliche Wirklichkeit ausgibt, während sie doch Resultat von Geschichte und Herrschaft ist. In dieser Entzauberung verbindet sich Barthes mit der Tradition marxistischer Ideologiekritik, auch wenn er keine systematische Gesellschaftstheorie entwirft. Sein Zugriff bleibt mikrologisch, phänomenologisch geschärft – eine Nahsicht auf die Oberfläche der Dinge, in der sich das Tiefenprofil des Sozialen offenbart.

Doch während Adorno im Kunstwerk, in der Negativität seiner Form, das Versprechen des Anderen, das Aufbrechen der Verdinglichung erkennt, verlagert Barthes die Subversion in das unendliche Spiel der Bedeutungen, das sich jeder Fixierung entzieht. Diese Differenz verweist auf unterschiedliche Konzeptionen des Widerstands: Für Adorno ist das Kunstwerk Ort einer dialektischen Spannung, in der die gesellschaftliche Totalität negativ aufgehoben wird. Bei Barthes hingegen findet die Kritik ihre Kraft gerade in der Fragmentierung, im Eigensinn der Zeichen, in der Auflösung stabiler Bedeutungszentren. Es ist eine Strategie der Zerstreuung, nicht der Konfrontation – eine Semiotik des Oszillierens, nicht des negierenden Eingriffs. Damit wird die Frage virulent, ob ein solches Spiel mit der Bedeutung mehr ist als Ästhetik, ob es vermag, Herrschaftsverhältnisse tatsächlich sichtbar zu machen – oder ob es sie nur elegant umspielt.

Die Formel vom „Tod des Autors“ markiert bei Barthes nicht nur den Bruch mit der bürgerlichen Genieästhetik, sondern reflektiert eine Epoche, in der das Subjekt selbst als Effekt gesellschaftlicher Diskurse erscheint. Der Autor verliert seine Rolle als Ursprung von Bedeutung – nicht nur im literaturtheoretischen, sondern im erkenntniskritischen Sinn. Barthes stellt damit die Vorstellung eines intentional handelnden, schöpferischen Subjekts infrage, das Sinn „produziert“ und seine Werke als Ausdruck individueller Tiefe versteht. Vielmehr verschiebt sich der Fokus auf die Strukturen, die Bedeutung überhaupt erst ermöglichen: Sprache, Diskurs, Intertextualität. Sinnproduktion wird nicht mehr als Ausdruck schöpferischer Intentionalität, sondern als Funktion eines diskursiven Gewebes von Praktiken, Macht- und Wissensverhältnissen verstanden – ein Gedanke, der später bei Foucault, Derrida oder Kristeva vielfältige Weiterentwicklungen erfährt.

Der Text wird zum „Gewebe von Zitaten“, das sich dem Zugriff des Lesers darbietet, ohne ihm je ganz zu gehören – ein offener Raum, in dem sich Autorität, Ursprung und Bedeutung dezentrieren. In dieser Bewegung verliert nicht nur der Autor seinen privilegierten Status; auch der Leser ist nicht mehr der hermeneutische Entschlüssler eines verborgenen Sinns, sondern Teilnehmer an einem Prozess der Bedeutungsproduktion, der niemals abgeschlossen ist. Bedeutung diffundiert in die Polyphonie des Textes, in seine Offenheit – eine Offenheit, die radikal ist, weil sie kein Zentrum kennt. Damit steht Barthes an der Schwelle zu einer poststrukturalistischen Theorie der Subjektivität, die nicht mehr auf Identität, sondern auf Differenz basiert. Der Text als Ort der Streuung, nicht der Wahrheit – als Fläche, auf der sich soziale Kräfte, kulturelle Codes und diskursive Positionen kreuzen und überschneiden.

Gerade in dieser Offenheit jedoch, die Barthes als Lust, als Emanzipation von der Tyrannei des Sinns feiert, erkennt Adorno eine Gefahr: die Regression der Kritik in Ästhetik, die Preisgabe der Negativität an die Beliebigkeit. Was bei Barthes als Befreiung erscheint – die Abkehr von eindeutigen Lesarten, die Feier der Vieldeutigkeit und der polyphonen Textstruktur – kann aus der Sicht kritischer Theorie zur Entmächtigung der Kritik selbst führen. Denn wo jede Festlegung verdächtig, jede Struktur dekonstruiert, jede Teleologie aufgegeben wird, droht das kritische Potenzial sich zu entleeren. Die Lust am Text kann, bei aller Subtilität, zur Affirmation des Status quo geraten, wenn sie die gesellschaftliche Vermittlung und die Totalität aus dem Blick verliert – und damit die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit nicht mehr reflektiert.

Für Adorno ist Kritik untrennbar mit dem Begriff der Negativität verbunden – jenem Beharren auf dem Nichtidentischen, auf dem, was sich der herrschenden Logik entzieht, ohne sich in ästhetischer Beliebigkeit zu verlieren. Die Gefahr besteht darin, dass die ästhetische Offenheit bei Barthes nicht zur Spannung führt, sondern zur Entspannung: zur Zerstreuung, zum stilistischen Spiel, zur ironischen Distanz, die keinen Preis mehr kennt. Eine Kritik, die sich im Spiel der Zeichen verliert, riskiert, zur ästhetischen Konsumtion zu werden – zur intellektuellen Haltung ohne Konsequenz, zur Haltung des postmodernen Flaneurs, der zwar alles durchschaut, aber nichts durchdringt. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist eine kritische Theorie denkbar, die auf Totalität verzichtet? Oder verliert sie damit ihre transzendierende Kraft, ihre Fähigkeit, das Bestehende nicht nur zu beschreiben, sondern zu negieren?

Adornos Begriff von Autonomie – als Widerstand, als Unversöhnlichkeit, als Nichtidentisches – ist Barthes fremd. Autonomie bedeutet bei Adorno nicht Selbstgenügsamkeit, sondern das Aushalten der Spannung zwischen Kunstwerk und Gesellschaft, zwischen Form und Inhalt, zwischen Ausdruck und Widerspruch. Das autonome Kunstwerk widersetzt sich der direkten Verwertbarkeit, es entzieht sich dem affirmativen Zugriff – gerade durch seine Form. In dieser Form manifestiert sich eine Negativität, die nicht im Spiel, sondern in der strukturellen Verweigerung liegt. Während Adorno auf der Spannung zwischen ästhetischer Gestalt und gesellschaftlichem Gehalt beharrt, öffnet Barthes den Text für eine radikale Dezentrierung des Subjekts. Der Autor verschwindet, das Subjekt wird dispers, der Text löst sich in ein intertextuelles Netzwerk auf. Was bei Adorno noch Ausdruck eines prekären Subjekts war, das gegen die Totalität anspricht, ist bei Barthes ein Ort der Zerstreuung, der Auflösung von Identität in Differenz.

Die Dialektik von Subjekt und Gesellschaft, die Adorno im Kunstwerk reflektiert, bleibt bei Barthes paradoxerweise unaufgehoben: Der Text ist sowohl Ort der Subjektkonstitution als auch ihrer Subversion – doch diese Paradoxie bleibt in der Schwebe, wird nicht dialektisch vermittelt. Statt auf Vermittlung setzt Barthes auf Suspension. Er sucht nicht nach dem Übergang, sondern feiert die Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Dekonstruktion, von Präsenz und Abwesenheit. Das Subjekt ist nicht mehr Träger von Erfahrung, sondern Effekt diskursiver Strukturen – ein verschiebbarer Punkt im Geflecht der Bedeutungen. Diese Haltung erlaubt eine präzise Kritik kultureller Codes, lässt aber die Frage offen, wer überhaupt noch spricht, wer kritisiert, wer handelt. In der Auflösung des Subjekts droht auch die kritische Instanz zu verschwinden, die Gesellschaft als Totalität begreift und negieren kann. Damit rückt erneut die Frage in den Vordergrund, ob ein Denken ohne Zentrum nicht auch ohne Widerstand bleibt.

Diese Schwebe, diese Weigerung, sich auf Wahrheit, Negation oder Utopie festzulegen, macht Barthes’ Ansatz für die Kritische Theorie ambivalent. Es ist eine produktive Unentschiedenheit, die das Dogma meidet, aber zugleich der Gefahr ausgesetzt ist, in einer unbestimmten Ironie zu verharren. Barthes’ Kritik ist scharf in der Entlarvung zeitgenössischer Mythen, präzise in der Dekonstruktion kultureller Selbstverständlichkeiten, produktiv in der Analyse ideologischer Mechanismen im Zeichen, im Bild, im Diskurs. Er zeigt, wie sich Macht im Gewöhnlichen einnistet, wie das scheinbar Harmlos-Alltägliche durch Semiologie politisch wird. Doch gerade diese Stärke wird zur Grenze, wenn die Reflexion sich weigert, über das Spiel der Bedeutungen hinaus auf Wahrheit, Totalität oder ein Anderes des Bestehenden zu zielen.

Barthes verbleibt im Ästhetischen, im Spielerischen, im Vieldeutigen – und riskiert damit, das kritische Moment im Unbestimmten zu suspendieren. Die Schwebe wird zur Methode, aber auch zum Hindernis: Sie schützt vor Festschreibung, aber auch vor Verbindlichkeit. Adornos Denken dagegen insistiert auf der Unerlöstheit des Realen, auf einem utopischen Überschuss, der im Kunstwerk negativ aufscheint. Das Kunstwerk ist bei ihm kein Spielraum, sondern ein Spannungsfeld – zwischen Ausdruck und Schweigen, Versprechen und Scheitern. Das utopische Moment, das Adorno im Kunstwerk als Verheißung erkennt, ist bei Barthes verschoben, vielleicht sogar aufgegeben. Wo Adorno in der Kunst eine Möglichkeit zur Konfrontation mit der Unwahrheit der Welt sieht, verweigert Barthes sich solcher transzendentalen Aufladung. Für ihn gibt es keine letzte Instanz, keine Wahrheit, keinen Ort des Anderen – nur das Gewebe von Zeichen, das sich jeder Letztbegründung entzieht.

So bleibt seine Kritik in der Bewegung, aber ohne Ziel – eine Hermeneutik des Widerstands ohne Telos, ein Denken der Differenz ohne Versöhnung. Damit steht Barthes exemplarisch für eine Form postkritischer Theorie, die nicht mehr auf Totalität, sondern auf Fragment, nicht auf Aufhebung, sondern auf Offenheit setzt. Ob dies eine Flucht vor der Wahrheit oder ihre subtilste Form ist – diese Frage bleibt offen.

Dennoch ist Barthes’ Beitrag zur Kulturkritik nicht zu unterschätzen. Seine semiotische Analyse erweitert das Instrumentarium der Ideologiekritik um eine Dimension, die das Feld der Zeichen, Bilder und Diskurse als Terrain gesellschaftlicher Auseinandersetzung sichtbar macht. Wo klassische Ideologiekritik sich primär auf ökonomische, politische oder institutionelle Strukturen konzentriert, richtet Barthes den Blick auf die Mikroformen des Alltags, auf die verborgenen Semantiken des Banalen. In der Sprache des Werbeplakats, im Spektakel des Sports oder in der Ikonografie der Konsumkultur erkennt er verdichtete Mythen, die eine vermeintlich natürliche Ordnung der Dinge suggerieren – und damit Herrschaft stabilisieren. Diese Perspektive sensibilisiert für jene Formen von Verblendung, die nicht durch Gewalt oder Zwang, sondern durch kulturelle Selbstverständlichkeit wirken.

Barthes fordert eine Praxis der Lektüre, die nicht nach Tiefe oder Authentizität sucht, sondern nach Spuren ideologischer Einschreibung, nach der Historizität des scheinbar Zeitlosen. Es ist eine Aufmerksamkeit für das kulturell Übercodierte, für die Brüche und Risse im Oberflächlichen, die seine Theorie produktiv macht. Doch genau diese Praxis, die sich jeder Eindeutigkeit, jeder Festlegung, jeder Negation entzieht, stellt sich quer zum emphatischen Wahrheitsbegriff der Kritischen Theorie. Ob sie jenem Anspruch gerecht wird, der auf die Durchdringung der Totalität, die Reflexion gesellschaftlicher Widersprüche und das Festhalten am Anderen zielt, bleibt offen.

Barthes’ Text bleibt schwebend, ein Möglichkeitsraum, in dem Emanzipation denkbar, aber nicht eingelöst erscheint. Seine Kritik zielt weniger auf Transformation als auf Entlarvung, weniger auf Befreiung als auf Bewusstmachung. Die Dialektik von Mythos und Wahrheit, Subjekt und Gesellschaft, Kritik und Ästhetik erscheint bei ihm als offene Konstellation – nicht als Prozess der Vermittlung, sondern als ästhetisch-kritische Versuchsanordnung. Sie fordert heraus, ohne zu verpflichten; sie provoziert Denken, aber verweigert sich dessen teleologischer Orientierung. Gerade diese Unabschließbarkeit macht seine Theorie reizvoll – und zugleich prekär in ihrer kritischen Wirksamkeit.

So zeigt sich Barthes, im Spiegel der Kritischen Theorie, als Theoretiker einer Moderne, die die Mythen der Gegenwart mit den Mitteln der Semiotik präzise analysiert und deren Aufmerksamkeit auf das scheinbar Banale und Alltägliche richtet. Sein Ansatz öffnet ein Feld, in dem kulturelle Herrschaft nicht nur als ökonomische oder politische Struktur, sondern als vielschichtiges Netz von Zeichen, Bildern und Diskursen erfahrbar wird. Damit leistet Barthes einen wesentlichen Beitrag zur Erweiterung kritischer Praxis und sensibilisiert für jene Formen der Verblendung, die im Verborgenen wirken und oft übersehen werden.

Gleichzeitig zeigt sich jedoch eine ambivalente Grenze: Barthes läuft Gefahr, im Spiel der Zeichen jene Ernsthaftigkeit zu verlieren, die für eine transformative Kritik unabdingbar ist. Seine Analyse ist elegant, seine Skepsis präzise, seine Lust an Vieldeutigkeit produktiv und befreit von dogmatischen Festlegungen – doch diese Offenheit kann auch zur Verflachung führen, zum Verharren in ästhetischer Ambiguität ohne politischen Anspruch. Wo Adorno noch eine radikale Negativität fordert, die auf Veränderung und Befreiung zielt, verweigert Barthes sich oft einer solchen finalen Bestimmung.

Ob dies genügt, um der Verblendung der Welt wirksam zu entkommen, bleibt daher die offene Frage, an der sich Kritik auch künftig zu bewähren hat. Barthes’ Werk stellt eine Herausforderung dar: Es konfrontiert die Kritische Theorie mit der Forderung, das Verhältnis von Zeichen, Macht und Subjekt neu zu denken, ohne die Kraft der Dialektik und die Ernsthaftigkeit der Kritik aufzugeben. In dieser Spannung eröffnet sich ein Möglichkeitsraum für künftige Reflexionen, in dem Emanzipation zwar denkbar, aber niemals endgültig gesichert ist – eine Dialektik der Schwebe, die weiterhin kritisch begleitet werden muss.


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