Seyla Benhabib und die Konstellation des Exils

Zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preis an Seyla Benhabib

Dass Seyla Benhabib heute in Bremen mit dem Hannah-Arendt-Preis geehrt wird, markiert einen Moment, in dem biographische Erfahrung, philosophische Einsicht und politische Gegenwart zur Konstellation zusammentreten. Mit dieser Ehrung tritt ein Denken hervor, das aus den Brüchen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist und im 21. Jahrhundert eine Sprache für jene entwickelt hat, die jenseits der vorgezeichneten Linien von Staat und Herkunft existieren müssen. Die Preisträgerin zeigt, dass das Politische dort seinen Ursprung findet, wo Verwundbarkeit in Ansprüche umschlägt, die das Persönliche durchstreichen, indem sie es universalisieren.

Benhabibs Werk bewegt sich in jenem Feld, das Hannah Arendt als „Ort des Politischen“ beschrieb: ein Terrain jenseits der bloßen Faktizität des Daseins wie der Konstruktionen staatlicher Souveränität. Es entsteht dort, wo Menschen einander Rechte zuerkennen, die keine Staatsmacht ihnen im Voraus zugesprochen hat – und darin liegt die Provokation. Arendts Begriff der Natalität erhält in Benhabibs Interpretation eine Wendung, die dessen utopischen Überschuss bewahrt: Geburt erscheint als wiederholbare Geste, als Möglichkeit, politische Rechte fortlaufend zu erneuern gegen jene Erstarrung, die Souveränität als Selbstzweck behauptet. Das „Recht, Rechte zu haben“ wird zu einer demokratischen Praxis, deren Kraft sich im Streit entfaltet – ein Kosmopolitismus, der die bestehenden Ordnungen durchdringt und infragestellt.

Besonders deutlich zeigt sich dies in ihren Arbeiten zur Staatenlosigkeit und den „demokratischen Iterationen“, in denen politische Rechte kontinuierlich neu verhandelt werden. In diesen Iterationen – dem wiederholten Einspruch gegen erstarrte Rechtsverhältnisse – manifestiert sich jene Unruhe, die verhindert, dass Recht zur bloßen Positivität gerinnt. Hier eröffnet sich eine produktive Spannung zu Walter Benjamin: Wo Benjamin das Messianische als Sprengung der Kontinuität dachte, als jenen „Tigersprung ins Vergangene“, der die homogene Zeit zerreißt, insistiert Benhabib auf der Iteration als Unterbrechung. Die fortwährende Revision wird zum Modus politischer Emanzipation, wo Benjamin die große Katastrophe erwartete. Was bei Benjamin als messianischer Einbruch erscheint, nimmt bei Benhabib die Gestalt demokratischer Praxis an – eine Profanierung des Messianischen, die dessen kritische Kraft in die Immanenz politischer Kämpfe überführt. Die Iteration ist Benjamins Eingedenken im Modus des Rechts: Vergangenheit wird nicht bewahrt, sondern aktualisiert in der Forderung derer, die heute an den Grenzen stehen.

Der Preis wird in der Oberen Rathaushalle überreicht, einem Ort, der der Ehrung ihren repräsentativen Rahmen verleiht. Doch die institutionelle Geste droht stets zu versöhnen, was unversöhnt bleiben muss. In diesem nüchternen Raum, im Zentrum der bürgerlichen Gesellschaft, zeigt sich die Frage nach politischer Zugehörigkeit in ihrer alltäglichen Gewalt: in der Verweigerung von Asyl, in der Figur des illegalen Grenzgängers, in jener Verletzbarkeit, die in der bloßen Grenzüberquerung zum politischen Skandalon wird. Benhabibs Denken erweist sich gerade dort am politischsten, wo es die Politik als bloße Verwaltung durchstreicht.

Die Gratulation an Benhabib wäre verfehlt, verstünde sie sich als Würdigung einer Tradition. Was ihr Denken auszeichnet, ist die Weigerung, Kritische Theorie als Erbe zu verwalten oder Arendt zum Monument erstarren zu lassen. Indem sie Arendts Fragen an die Migrationsregime der Gegenwart richtet, zerreißt sie jenen Schleier der Kontinuität, hinter dem sich die Barbarei so gern als Normalität verbirgt. Ihr Werk erinnert daran, dass die Humanität politischer Ordnungen nicht im Beharren liegt, sondern im Vermögen, sich wandeln zu lassen – eine Einsicht, die heute, da Grenzen zu Todesstreifen werden, ihre volle Dringlichkeit offenbart.

Möge dieser Preis nicht nur ehren, sondern die Dringlichkeit eines Denkens wachhalten, das die Würde des Menschen nicht delegiert, sondern behauptet – gegen die Engführungen der Gegenwart und im Namen jener, denen die Welt nach wie vor kein Zuhause gewährt. In Benhabibs Werk erklingt jene Stimme, die Benjamin im „Engel der Geschichte“ vernahm: der Blick zurück auf die Trümmer, verbunden mit der Weigerung, sie als Preis des Fortschritts zu akzeptieren.



Seyla Benhabib, 1950 in Istanbul geboren, ist Philosophin und Politikwissenschaftlerin. Ihre Promotion 1977 in Yale widmete sich Hegels Rechtsphilosophie. Sie lehrte an Yale, Columbia und Harvard und hatte zahlreiche Gastprofessuren weltweit inne. Benhabib steht in der Tradition der Kritischen Theorie und wurde 2009 mit dem Theodor W. Adorno-Preis ausgezeichnet. Zu ihren auf Deutsch erschienenen Werken gehören Kosmopolitismus ohne Illusionen: Menschenrechte in unruhigen Zeiten (Suhrkamp, 2016), Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger (Suhrkamp, 2008), Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte (Campus, 2008) sowie Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne (Suhrkamp, 1998).

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