Das verpasste Gespräch. Adorno, Sartre und die Aporie des Engagements

I. Zwei Denker im Zwielicht des Jahrhunderts

Es gibt im intellektuellen Leben des 20. Jahrhunderts Begegnungen, die nie stattgefunden haben und dennoch wie Gespräche wirken. Zwischen Adorno und Sartre verlief eine solche stumme Korrespondenz. Sie stehen an zwei Enden derselben historischen Erschütterung: Krieg, Faschismus, die Erfahrung radikaler Verletzbarkeit menschlicher Freiheit. Beide haben versucht, den Kunstwerken und Gedanken eine Form zu geben, die dieser Erschütterung standhält – und doch tat jeder dies auf eigene, nahezu entgegengesetzte Weise.

Sartre, der Schriftsteller im Rampenlicht des Nachkriegseuropas, sah im Denken eine Bewegung, die unweigerlich in die Öffentlichkeit strebt. Freiheit ist für ihn kein innerer Vorbehalt, vielmehr ein Entwurf, der in das Geschehen eingreift. Das Wort, einmal ausgesprochen, soll Wirkung erzeugen, Position beziehen, Partei ergreifen. Der Intellektuelle erscheint als jemand, der das Schweigen verweigert, weil jede Untätigkeit zum Komplizen der Gewalt werden könnte.

Adorno, geprägt von Exil und Entwurzelung, vertraute eher der gedanklichen Konzentration, der Kraft des Abseits. Was sich nicht sofort dem politischen Zugriff erschließt, kann dennoch von historischer Wahrheit durchzogen sein. Der Ort der Kritik liegt für ihn weniger im Sprechen als in der Form, im Gefüge des Kunstwerks, in jenem schwer zu entziffernden Widerstand, der sich gerade der Vereinnahmung durch Zweck und Absicht entzieht.

Dass Adorno Sartre eingehend studierte, während Sartre ihm kaum Beachtung schenkte, wirkt wie ein beiläufiger Hinweis auf verschiedene Weisen, die Welt ernst zu nehmen. Adorno witterte in Sartres Philosophie einen Gegner, der die geistigen Auseinandersetzungen der Zeit bündelte; diese Auseinandersetzung fand ihren expliziten Ausdruck im Essay „Engagement“ (1962) und, strukturell verallgemeinert, in Jargon der Eigentlichkeit (1964). Dort identifizierte er im existenzialistischen Pathos der Entscheidung und der Situation eine Tendenz, die objektive gesellschaftliche Vermittlung des Leidens ideologisch zu überhöhen. Sartre hingegen war von der unmittelbaren politischen Gegenwart so umstellt, dass er ihre theoretischen Gegenstimmen kaum wahrzunehmen schien. Die Asymmetrie ist nicht bloß biographisch. Sie gehört zur Sache selbst.

Und doch stehen ihre Namen nebeneinander, wenn man die Frage stellt, welche Aufgabe Kunst und Denken im Schatten eines zerstörten Jahrhunderts übernehmen können. Beide empfanden die Verpflichtung, dem Leiden und der Unwahrheit der Welt etwas entgegenzuhalten. Aber sie nahmen unterschiedliche Wege auf sich, um diesem Anspruch gerecht zu werden: der eine im Gestus des Eingreifens, der andere im Versprechen eines Gedankens, der die geschichtlichen Verhärtungen sichtbar macht, ohne sich ihrer Logik zu unterwerfen.

Dieser Essay verfolgt die These, dass Adornos Ästhetik ihre Schärfe gerade der Auseinandersetzung mit Sartre verdankt – und dass beide, bei aller Unvereinbarkeit ihrer Programme, auf eine gemeinsame Aporie verweisen: die Unmöglichkeit, Kunst von gesellschaftlicher Verantwortung zu trennen, ohne sie zugleich ihrer kritischen Potenz zu berauben. Wie lässt sich, angesichts einer beschädigten Wirklichkeit, noch von Freiheit sprechen? Welche Rolle kommt der Kunst zu, wenn sie sich der politischen und moralischen Erpressung entziehen soll und zugleich nicht blind für die Dringlichkeit ihrer Zeit bleiben darf? Die Auseinandersetzung zwischen Adorno und Sartre bildet dafür eine Linse, durch die diese Fragen klarer hervortreten – nicht als Lösung, vielmehr als Konstellation, in der sich zwei Weisen des Denkens berühren, gerade indem sie sich voneinander entfernen.

II. Subjektivität und Freiheit: Zwei Ausgangspunkte, zwei Horizonte

Wenn man Adorno und Sartre in ihrem Verständnis des Subjekts betrachtet, öffnet sich sofort ein Raum, in dem sich ihre Denkwege voneinander lösen. Beide nehmen die moderne Erfahrung der Freiheit ernst, doch sie tun es unter verschiedenen historischen und philosophischen Voraussetzungen – als nähmen sie dieselbe Figur in zwei unterschiedlichen Lichtverhältnissen wahr.

Für Sartre ist das Subjekt ein Anfang ohne Garantien. In L’Être et le Néant erscheint es als ein Bewusstsein, das sich immer schon über sich selbst hinaus entwirft, ein offener Entwurf, der keine festgelegte Natur besitzt und deshalb unablässig Verantwortung trägt für das, was aus ihm wird. Freiheit bildet die Grundstruktur dieses Entwurfs. Sie kommt nicht aus gesellschaftlichen Bedingungen, vielmehr aus der Leere, die das Bewusstsein zwischen sich und der Welt schafft. Diese Sicht verleiht dem einzelnen Handeln eine Dringlichkeit, die sich dramatisch ausnimmt: Jeder Entschluss trägt das Gewicht einer Welt.

Adorno sieht im Subjekt weniger den Urheber seiner selbst als das Produkt eines geschichtlichen Drucks, der sich den Individuen einschreibt und ihre Freiheit von innen her begrenzt. Die Freiheit des modernen Menschen ist für ihn eine fragile Größe, durchzogen von Zwängen, die nicht auf bloßen Willen zurückgehen. Das Subjekt hat einen Spielraum – aber seine Konturen sind eng gezogen, geformt durch gesellschaftliche Mechanismen und durch eine historische Erfahrung, die tiefer reicht als jede bewusste Entscheidung. Adorno kritisierte, dass die existenzialistische Überhöhung der absoluten Wahlfreiheit (der „Jargon der Eigentlichkeit“) die objektiven, materiellen Bedingungen des Leidens leugnet. Freiheit ist in diesem Verständnis nicht das souveräne Vermögen; sie zeigt sich als die Möglichkeit eines Moments, das sich gegen die objektive Macht der Verhältnisse behauptet, ohne je ganz aus ihr herauszutreten.

Diese beiden Begriffe von Subjektivität – der entwerfende Mensch Sartres und das widersprüchlich vermittelte Ich Adornos – bestimmen die jeweiligen ästhetischen Positionen weitgehend. Bei Sartre führt die Betonung der Freiheit zu einer Literatur, die von der Entscheidung lebt, die in die Öffentlichkeit tritt und sich der Situation stellt. Bei Adorno hängt die Wahrheit eines Kunstwerks weniger am Willen des Autors als an der Fähigkeit, die geschichtlichen Schichten sichtbar zu machen, die das Subjekt übersteigen.

Sartres Subjekt will sich exponieren; Adornos ist sich seiner eigenen Gebrochenheit bewusst. Das ist mehr als eine philosophische Differenz: Es ist eine unterschiedliche Sensibilität für das Verhältnis von Innen und Außen, von Möglichkeit und Grenze. Und vielleicht hängt daran schon die Divergenz ihrer ästhetischen Urteile. Denn wer die Freiheit im Akt der Entscheidung verortet, erwartet von der Kunst eine Bewegung nach vorn; wer sie als schmale Spur im Innern der Unfreiheit sieht, wird in der Kunst eher ein Element der Unterbrechung suchen, ein Innehalten, in dem sich die Welt in einer anderen Form zeigt, als es ihr Gang erwarten lässt.

III. Engagement und Autonomie: Zwei Modelle politischer Kunst

Die Differenz zwischen Sartre und Adorno tritt am deutlichsten hervor, sobald es um die Frage geht, was Kunst überhaupt leisten soll. Hier begegnen sich zwei Begriffe des Politischen, die sich kaum ineinander vermitteln lassen und dennoch denselben Anspruch teilen: Kunst darf den gesellschaftlichen Zustand nicht bloß spiegeln; sie muss sich an ihm bewähren.

Für Sartre, insbesondere im programmatischen Essay Qu’est-ce que la littérature?, steht der Schriftsteller im Raum der Handlung. Sprache ist kein autonomes Medium, vielmehr ein Werkzeug, das in die Welt eingreift. Die Literatur besitzt eine moralische Adresse: Sie spricht, um etwas zu verändern. Der Schriftsteller trägt Verantwortung, weil seine Worte immer schon im Horizont der Entscheidung stehen. Engagement bedeutet, dass das Werk nicht auf Distanz geht, vielmehr auf die Situation antwortet, auf Widersprüche zeigt, Partei ergreift. Die Form soll sich der Verständlichkeit nicht verschließen; sie soll die Welt so klar zeigen, dass aus ihrer Darstellung ein Impuls zum Handeln erwächst.

Dieses Verständnis trägt eine doppelte Bedeutung. Zunächst beschreibt es, was ohnehin geschieht: Jedes literarische Werk entsteht aus einer bestimmten Lage heraus, trägt die Spuren seiner Zeit, spricht zu Menschen, die eine Gegenwart mit dem Autor teilen. Die Literatur ist immer schon verstrickt, gebunden an den Ort und die Stunde ihres Entstehens. Der Gegenstand der Literatur bleibt der Mensch in seiner konkreten Situation – nicht als abstrakte, zeitlose Figur, vielmehr als Einzelner an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Für Sartre ist diese Verstrickung nicht optional. „Wie man auch immer zur Literatur gekommen sein mag, welches auch immer die Meinungen sind, zu denen man sich bekannt hat, sie wirft einen in die Schlacht; Schreiben ist eine bestimmte Art, die Freiheit zu wollen; wenn man einmal angefangen hat, ist man wohl oder übel engagiert“ (Sartre: 1981, S. 55). Das Werk soll sich dieser Verstrickung nicht entziehen, es soll sie anerkennen und produktiv machen. Der Schriftsteller, der seine historische Situation leugnet, verfehlt gerade jene Universalität, die er zu gewinnen hofft. Denn das Allgemeine erschließt sich bei Sartre nur durch das Konkrete hindurch – nicht als zeitlose Wahrheit, die über den Dingen schwebt, vielmehr als Möglichkeit, die sich im Besonderen zeigt.

Entscheidend ist dabei die Rolle des Lesers. Das literarische Werk vollendet sich für Sartre nicht im Akt des Schreibens; es entsteht erst im Lesen neu, in jener Bewegung, durch die der Leser das Geschriebene aufnimmt und mit eigenem Leben füllt. Autor und Leser begegnen sich in einem geteilten Raum, der durch das Werk eröffnet wird. Diese Begegnung gründet in der Freiheit: Der Autor bietet dem Leser keine fertige Botschaft, die nur noch übernommen werden müsste; er eröffnet eine Situation, in der sich der Leser selbst entscheiden muss. Literatur wird so zu einem Akt wechselseitiger Freiheit, in dem beide Seiten – schreibend und lesend – ihre Verantwortung gegenüber der Welt wahrnehmen.

Adorno begegnet diesem Modell mit tiefer Skepsis. Ihm erscheint die Forderung nach Transparenz, nach Botschaft und Verständlichkeit wie ein Rückfall in eine Rhetorik, die der Kunst ihren eigenen Ort nimmt. „In Deutschland“, notierte er scharf, „läuft vielfach das Engagement auf Geblök hinaus, auf das, was alle sagen oder wenigstens latent alle gerne hören möchten“ (Adorno: 1965, S. 133). Wo die Literatur ausschließlich auf Wirkung zielt, droht sie, in die Logik des zweckrationalen Handelns einzurücken, aus der sie sich gerade zu lösen versucht. Ein Kunstwerk, das von vornherein sagt, wofür es steht, entlastet den Betrachter, schwächt aber zugleich seine Wahrheit. Denn Wahrheit ist für Adorno nichts, das sich durch die richtige Parole einholen lässt; sie liegt im Widerstand der Form, in den Brüchen und Spannungen, die nicht auf einen unmittelbaren Appell zusammenschrumpfen. „Literatur, die wie die engagierte […] für den Menschen da ist“, so Adorno, „verrät ihn, indem sie die Sache verrät, dem helfen könnte nur, wenn sie nicht sich gebärdet, als ob sie ihm hülfte“ (Adorno: 1965, S. 133).

Sartres Konzept des Engagements hebt die Kunst in den Raum politischer Verantwortung, doch es bindet sie an die Gegenwart, in der sie wirken soll. Adorno dagegen vertraut darauf, dass Kunst gerade dort politisch wird, wo sie sich dieser Bindung entzieht. Ihre Kraft entsteht aus der Distanz, die sie zur Welt schafft: nicht, um sich in ästhetischer Selbstgenügsamkeit zu verlieren – diese Versuchung kennt auch Adorno –, vielmehr um einen Blick freizulegen, der die Verhältnisse nicht bestätigt, der sie unterbricht. „An der Zeit sind nicht die politischen Kunstwerke“, schreibt er, „aber in die autonomen ist die Politik eingewandert, und dort am weitesten, wo sie politisch tot sich stellen“ (Adorno: 1965, S. 134f.). Der Eingriff, den Sartre vom Schriftsteller verlangt, erscheint aus Adornos Sicht zu unmittelbar; er befürchtet, dass Kunst durch politische Absicht kalkulierbar wird und dadurch an Erfahrungstiefe verliert. „Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt“ (Adorno: 1965, S. 114).

Beide Positionen, so weit sie auseinanderliegen, beruhen auf einem gemeinsamen Ernst: Kunst soll mehr sein als Ornament. Sie soll mit der Welt streiten, in der sie entsteht. Sartre sucht den Streit in der offenen Sprache der Entscheidung; Adorno in der Komplexität der Form, die dem schnellen Zugriff entgeht. Ob das Werk eingreift, indem es spricht, oder indem es schweigt, bleibt eine Frage der Haltung – jener Haltung, die bestimmt, ob man im Politischen das Feld des Handelns oder das Feld der Erfahrung betont.

IV. Der Schriftsteller als Intellektueller: Verantwortung oder Überforderung?

Die Frage nach der Rolle des Intellektuellen stellt sich heute unter anderen Bedingungen als zu jener Zeit, in der sich Sartre und Adorno über ihre Divergenzen hinweg doch auf eine gemeinsame Tradition berufen konnten: die Idee, dass Denken eine Form gesellschaftlicher Intervention ist. Doch gerade dieses Erbe zwingt dazu, die Figuren des engagierten Schriftstellers neu zu betrachten – nicht im Gestus nostalgischer Verehrung, vielmehr als Modelle, an denen sich die Grenzen und Möglichkeiten kritischer Praxis abzeichnen.

Sartre entwickelte das wohl folgenreichste Bild des Intellektuellen des 20. Jahrhunderts: eine Figur, die aus ihrer eigenen Privilegierung den moralischen Imperativ zur Parteinahme ableitet. Der Schriftsteller wird zum Stellvertreter jener, die keine Stimme besitzen; seine Öffentlichkeit ist riskiert, weil die Wahrheit, für die er einsteht, notwendig aneckt. Sartre formulierte diese Haltung mit einer Radikalität, die keinen Zweifel ließ: „Es kommt der Tag, wo die Feder gezwungen ist innezuhalten, und dann muss der Schriftsteller zu den Waffen greifen“ (Sartre: 1981, S. 54f.). Algerien, Antikolonialismus, der permanente Konflikt mit Staat und Gesellschaft – Sartres Existenz war durchzogen von der Überzeugung, dass jedes geschriebene Wort eine Verantwortung einschreibt, die über das eigene Leben hinausreicht. In dieser Haltung liegt ein aristokratischer Mut, der nicht elitär ist, der vielmehr aus der strengen Verpflichtung auf die Universalisierbarkeit des Leidens erwächst.

Adorno hingegen misstraute der Versuchung, dem Intellektuellen eine politische Stellvertreterfunktion zuzuschreiben. Sein Modell setzt auf die Unruhe des Denkens, auf den Zeugen der Nicht-Identität, der keine Botschaft verkündet und keiner Bewegung verpflichtet ist. Wahrheit entsteht im Abstand – nicht im Rückzug, vielmehr in jenem vermittelten Ort, an dem Kritik ihren Gegenstand weder affirmiert noch durch bloße Opposition stabilisiert. Für Adorno kann der Intellektuelle dem Leid der Welt nur gerecht werden, indem er sich der Vereinnahmung entzieht: auch der revolutionären. Die bestimmte Negation ist keine Methode politischen Handelns; sie ist eine Form, das Wirkliche gegen seine eigene Selbstverständlichkeit zu richten.

Zwischen diesen beiden Modellen spannt sich eine Antinomie auf, die sich nicht in einer einfachen Synthese aufheben lässt. Sartres Pathos der Verantwortung bleibt bewundernswert – nicht wegen seiner Gewissheiten, wegen der Bereitschaft, das eigene Denken den Konsequenzen auszusetzen. Aber ebenso unverzichtbar ist Adornos insistierende Distanz, die verhindert, dass Engagement in moralisches Furor oder politische Selbstüberhebung kippt.

Die Figur des Intellektuellen wird dort glaubwürdig, wo sie beide Impulse zugleich zulässt: Mut und Skepsis, Öffentlichkeit und Selbstkritik, Nähe zum Geschehen und die Fähigkeit, sich von ihm zurückzunehmen. Man denke an die gegenwärtigen Debatten um Klimaaktivismus oder die Forderungen nach politischer Positionierung in der Identitätspolitik: Auch dort zeigt sich, wie schnell der Anspruch auf moralische Klarheit in jene Vereinfachungen mündet, vor denen Adorno warnte – und wie sehr es zugleich eines Mutes bedarf, der sich Sartres Erbe verpflichtet weiß. Der Intellektuelle, der heute die Spannung zwischen diesen Polen aushält, findet sich in einer prekären Lage wieder: Er soll sprechen, aber nicht zu laut; er soll handeln, aber nicht zu direkt; er soll Position beziehen, ohne die Komplexität der Verhältnisse zu opfern.

Vielleicht ist genau diese Spannung die einzige Form, in der kritische Theorie heute noch zu sich selbst stehen kann. Der Intellektuelle bleibt notwendig überfordert – weil er immer mehr erwartet, als er erfüllen kann. Doch darin liegt seine Verantwortung: nicht im Sprechen für andere, vielmehr im Beharren darauf, dass Wahrheit weder im Rückzug noch im Aktionismus zu finden ist, dass sie im Schwebezustand zwischen beiden Polen aufscheint. Eine Haltung, die weder den Anspruch aufgibt noch seine eigene Ohnmacht verdrängt.

V. Ästhetische Theorie im engeren Sinne: Kunstwerk, Form, Vermittlung

Die ästhetische Theorie bildet den Punkt, an dem die Differenzen zwischen Sartre und Adorno am deutlichsten hervortreten. Denn hier geht es nicht nur um politische Haltungen oder die Rolle des Intellektuellen, hier geht es um die Frage, wie Kunst überhaupt Bedeutung gewinnt – ob sie sich in Kommunikation erfüllt oder im Widerstand gegen ihre kommunikative Vereinnahmung.

Für Sartre ist Kunst wesentlich Sprache: ein Medium, das Welt zur Entscheidung stellt. Das Werk spricht, weil der Autor spricht; es wird verständlich durch die Funktion, die es erfüllt. Literatur eröffnet dem Leser eine Situation, in der er sich positionieren muss. Wahrheit entsteht als ein Akt: im gemeinsamen Raum von Autor und Leser, die zusammen eine politische Wirklichkeit aufrufen. Der Text ist dabei kein autonomer Gegenstand, vielmehr ein Angebot zur Freiheit, ein Appell, der seine Bedeutung erst im Vollzug entdeckt. Der Leser tritt nicht als passiver Empfänger auf; er vollendet das Werk, indem er es mit seiner eigenen Erfahrung durchdringt. Diese Bewegung bleibt gebunden an die historische Lage, aus der das Werk hervorgeht – und gerade diese Bindung ermöglicht es, dass sich im Besonderen etwas Allgemeines zeigt. Sartres Überzeugung ist, dass die Literatur ihre Universalität nicht trotz, vielmehr durch ihre Situiertheit gewinnt. Das Konkrete wird nicht überwunden, es wird zum Durchgang für eine Erfahrung, die über den unmittelbaren Anlass hinausreicht.

Adornos ästhetische Theorie richtet sich nahezu spiegelbildlich gegen diese Funktionalisierung. Für ihn ist das Kunstwerk nicht Botschaft, vielmehr Form: ein kristalliner Komplex gesellschaftlicher Sedimente, der sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht. Seine Objektivität liegt in der inneren Struktur, nicht in der Intention des Autors. Moderne Kunst muss, so Adorno, schwierig sein – nicht aus Elitismus, weil die Welt, aus der sie hervorgeht, selbst unversöhnlich ist. Das Dunkel der Verhältnisse schreibt sich in die Form ein, die kein Versprechen aufklärt, die das Unversöhnte sichtbar hält. Kunst ist Ausdruck, nicht Darstellung; sie verweigert sich der Transparenz, um nicht in jene Logik einzugehen, die alles Kommunikative sofort in Nutzen überführt.

In dieser Gegenüberstellung wird die strukturelle Unvereinbarkeit der beiden Programme deutlich. Sartre vertraut auf die Verständlichkeit des Werks: seine Klarheit soll die Welt politisch veränderbar machen. Adorno hingegen insistiert darauf, dass das Kunstwerk seinen Sinn gerade dadurch wahrt, dass es undurchsichtig bleibt – ein Gebilde, dessen Wahrheit nicht ausgesprochen, dessen Wahrheit erfahren wird. Bei Sartre ist der Autor die zentrale Instanz; bei Adorno gewinnt das Werk ein Eigenleben, das sich dem Autor entzieht und das Subjekt in seiner Selbstgewissheit irritiert.

Doch gerade die Unvereinbarkeit dieser Programme verweist auf etwas, das beide gleichermaßen verfolgen: die Weigerung, Kunst auf bloße Affirmation zu reduzieren. Sartres Transparenz soll die Welt veränderbar machen; Adornos Opazität soll verhindern, dass sie zu schnell begriffen und damit beherrscht wird. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen lässt sich nicht auflösen – sie ist konstitutiv. Denn eine Kunst, die nur auf Kommunikation setzt, läuft Gefahr, in Propaganda zu münden; eine Kunst, die nur auf Autonomie pocht, droht in Hermetik zu erstarren. Beide Gefahren sind real, beide haben sich historisch bewahrheitet. Und beide Denker wussten das.

Was sich hier zeigt, ist weniger ein Gegensatz als eine dialektische Konstellation: Die Forderung nach Verständlichkeit hält die autonome Kunst davon ab, sich in weltfremde Selbstbezüglichkeit zu verlieren; der Anspruch auf Autonomie bewahrt die engagierte Kunst davor, in den Dienst vorgegebener Zwecke zu treten. Beide Positionen brauchen einander als Korrektiv, auch wenn ihre Vertreter das nie eingestehen würden. In dieser wechselseitigen Begrenzung liegt eine Produktivität, die sich erst im Rückblick erschließt.

VI. Bestimmte Negation Sartres: Was sich Adorno dennoch verdankt

Die Auseinandersetzung mit Sartres Denken wirkt auf Adorno wie ein Spiegel, der die Konturen der eigenen Position erst scharf zeichnet. In Sartres Engagement-Philosophie, in der Literatur zur politischen Intervention gerinnt, erkennt Adorno ein Gegenbild, das er durchdringen muss, um die Autonomie der Kunst zu verteidigen. Ohne diesen Impuls bliebe die Verteidigung der formalen Negativität und der Opazität eines Werkes weniger dringlich, weniger theoretisch zugespitzt. Die produktive Reibung, die aus der Konfrontation entsteht, entfaltet somit selbst eine dialektische Kraft: Sartres Anspruch zwingt Adorno, seine eigenen Kategorien, seinen Begriff der bestimmten Negation, zu präzisieren.

Trotz aller Differenzen bestehen unausgesprochene Nähepunkte. Beide Intellektuelle wollen, dass Kunst der Unwahrheit der Welt nicht nachgibt, dass sie sich der Indifferenz verweigert, die der Alltag aufdrängt. Für beide ist Literatur ein ethisch-politisches Experimentierfeld: ein Medium, in dem gesellschaftliche Widersprüche verhandelt, erprobt und sichtbar gemacht werden können. Die Mittel unterscheiden sich: bei Sartre tritt der Schriftsteller als moralische Instanz hervor, bei Adorno wird die Form zum Zeugen der gesellschaftlichen Nicht-Identität. Doch der gemeinsame Ernst gegenüber der Welt verbindet sie trotz gegensätzlicher Strategien.

Aus dieser Spannung lässt sich ein dritter Weg formulieren, der über die bloße Alternative von Engagement und Autonomie hinausweist. Es ist die Möglichkeit, eingreifen zu können, ohne sich der Instrumentalisierung zu unterwerfen, die Reflexion zu wahren, ohne die Forderung nach Verantwortung zu leugnen. Kunst und Denken verschränken sich in dieser Haltung: das Werk bleibt autonom, ohne sich von der Welt zu lösen; der Intellektuelle bleibt öffentlich, ohne die Form seiner Erkenntnis den Drängen des politischen Augenblicks zu unterwerfen. In diesem Moment tritt ein Modell zutage, das dem benjaminschen Impuls verwandt ist: Eingreifen nicht als blinden Aktionismus zu verstehen, sondern als den ‚Tigersprung‘, der das historische Kontinuum unterbricht. Ein Intellektueller, der sich zwischen Distanz und Aktion bewegt, der die Bedingungen der eigenen Wirkung kennt und zugleich deren Grenzen anerkennt, und der gerade durch diese Spannung wirksam bleibt.

Die Würdigung Sartres besteht nicht darin, seine Forderungen zu übernehmen, vielmehr darin, sie produktiv zu lesen: als Prüfstein, der Adornos Reflexion schärft und zugleich eine tiefere Einsicht in die strukturelle Bedingtheit des Engagements eröffnet. In dieser Lektüre entfaltet sich die Bestimmtheit der Negation: sie tritt nicht als bloßer Gegensatz auf, vielmehr als kritischer Raum, in dem die Differenz zwischen Freiheit, Verantwortung und Form gewahrt bleibt und zugleich in produktiver Spannung steht.

VII. In welchem Licht stehen die beiden heute?

Im Rückblick erscheinen Sartre und Adorno nicht als Gegenspieler. Sie stehen als zwei Pole eines Problems, das bis in die Gegenwart nachwirkt und vielleicht erst heute seine volle Dringlichkeit entfaltet. In einer Zeit, in der Kunst zwischen Marktmechanismen und moralischen Forderungen zerrieben wird, drängt sich die Frage auf, wie Kritik ihre Geltung behaupten kann, ohne sich selbst preiszugeben. Beide zeigen, dass diese Frage keine einfache Antwort kennt, dass sie auf die unaufhebbare Spannung zwischen Verantwortung und Reflexion angewiesen ist.

Sartres Mut, die Öffentlichkeit zu riskieren und mit jedem Wort Partei zu ergreifen, kontrastiert mit Adornos Strenge, die im Widerstand der Form die Wahrheit bewahrt. Doch beide tragen denselben Impuls: die Verpflichtung, Wahrheit im Zeitalter ihrer Gefährdung zu wahren. Der eine drängt zur Aktion, der andere zum Nachdenken; der eine spricht, der andere lässt die Welt in der Form sprechen. Ihre Wege trennen sich, aber sie verweisen auf dieselbe historische Erfahrung – die Erfahrung, dass Freiheit, Verantwortung und Kritik in einer beschädigten Welt nur im Spannungsverhältnis existieren.

Das Erbe der beiden Denker liegt darin, dass Kritik scheitern muss – aber nur im produktiven Scheitern bleibt sie wahr. Sartres Engagement läuft Gefahr, in Ideologie umzuschlagen; Adornos Autonomie droht in Weltfremdheit zu erstarren. Zwischen diesen beiden Abgründen entfaltet sich kritische Theorie heute als Praxis unvollendeter Reflexion, nicht als geschlossene Synthese. Die Konstellation, die Sartre und Adorno bilden, ist deshalb mehr als ein historisches Dokument. Sie ist eine Erinnerung daran, dass jede Position, die sich zu sicher fühlt, bereits auf dem Weg ist, ihre Wahrheit zu verlieren.

Kritik bleibt wirksam, nicht wenn sie sich auflöst oder sich vereinfacht, wenn sie die Spannung zwischen Eingreifen und Distanz, zwischen Engagement und Autonomie, zwischen Mut und Reflexion ernst nimmt. In diesem Licht erscheint die Konfrontation zwischen Sartre und Adorno nicht als Streit um Vorrang, vielmehr als Einladung, die Praxis des Denkens als unvollendetes Experiment zu begreifen – ein Experiment, das noch immer auslotet, wie Kunst und Theorie der Unwahrheit der Welt begegnen können, ohne die eigene Kraft zu verraten.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Adorno, T. W. (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
– Grundlegende Kritik am existenzialistischen Denken, insbesondere an der ideologischen Überhöhung von Entscheidung, Authentizität und Situation; zentral für Adornos Auseinandersetzung mit Sartre.

Adorno, T. W. (1965): Noten zur Literatur III. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
– Enthält den Essay „Engagement“ (Erstveröffentlichung 1962), in dem Adorno Sartres Konzept politisch-moralischer Literatur und die Forderung nach unmittelbarer Wirksamkeit von Kunst kritisch analysiert.

Adorno, T. W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
– Grundlagentext für Adornos Subjekt- und Freiheitsverständnis; entfaltet den Begriff der bestimmten Negation, der für die Abgrenzung gegenüber existenzialistischer Freiheitsphilosophie zentral ist.

Adorno, T. W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
– Posthum veröffentlichtes Hauptwerk zur Autonomie der Kunst; entwickelt den Gedanken des Widerstands der Form gegen gesellschaftliche Zweckrationalität und bildet den theoretischen Gegenpol zu Sartres Engagement-Konzept.

Sartre, J.-P. (1943): L’Être et le Néant. Paris: Gallimard
(dt.: Das Sein und das Nichts. Reinbek: Rowohlt).
– Fundamentaler Text zu Sartres Ontologie des Bewusstseins und zum Begriff radikaler Freiheit; zentraler Bezugspunkt für Adornos Kritik an der Überhöhung subjektiver Entscheidung.

Sartre, J.-P. (1947): Qu’est-ce que la littérature ? Paris: Gallimard
(dt.: Was ist Literatur? In: Gesammelte Werke 2. Schriften zur Literatur. Reinbek: Rowohlt, 1981).
– Programmatischer Text zur Forderung nach engagierter Literatur; entfaltet Sartres Verständnis des Schriftstellers als politisch verantwortlichen Intellektuellen.

Sartre, J.-P. (1960): Critique de la raison dialectique. Paris: Gallimard
(dt.: Kritik der dialektischen Vernunft. Reinbek: Rowohlt).
– Spätere, marxistisch orientierte Weiterentwicklung von Sartres Freiheitsbegriff; versucht, subjektive Praxis mit gesellschaftlicher Vermittlung zu verbinden und relativiert frühere existentialistische Positionen.


Sekundärliteratur

Jay, M. (1984): Adorno. Cambridge, MA: Harvard University Press.
– Klassische Einführung in Adornos Denken; bietet eine differenzierte Darstellung seiner Ästhetik und seiner Kritik am existenzialistischen Engagement.

Kaufmann, V. (2006): Sartre and Adorno: Philosophy, Literature, and Politics. London: Continuum.
– Systematischer Vergleich beider Denker; analysiert die Spannung zwischen Engagement und Autonomie als zentrale theoretische Konstellation.

Sherman, D. (2008): Sartre and Adorno: A Study in Asymmetry. New York: Continuum.
– Untersuchung der asymmetrischen Rezeption Sartres durch Adorno; vertieft die Unterschiede ihrer Subjekt- und Freiheitsbegriffe.

Wiggershaus, R. (1986): Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theorien, Personen. München: Hanser.
– Historische Kontextualisierung von Adornos Theoriearbeit innerhalb der Frankfurter Schule und ihrer Auseinandersetzung mit Existentialismus und Nachkriegsintellektualität.

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