Leib, Negativität, Haltung
Abstract
Rudolf zur Lippe verschiebt den Ort der Kritik dorthin, wo Theorie leiblich wird: in Wahrnehmung, Bewegung und Haltung. Seine Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie Adornos entzieht sich disziplinärer Festlegung und entfaltet sich als Grenzgängertum zwischen Philosophie, ästhetischer Praxis und historischer Erfahrung. Der Leib erscheint als Ort von Negativität, Widerstand und Verzögerung – als Erfahrungsraum, der sich gesellschaftlicher Totalintegration entzieht. In künstlerischen und kuratorischen Praktiken wie Malerei, Theater, Film und Ausstellung übersetzt Zur Lippe theoretische Diagnose in sinnlich erfahrbare Konstellationen. Der Essay zeigt, dass Kritische Theorie bei Zur Lippe im Begriff ebenso wie in Übung, Haltung und leiblichem Vollzug wirksam wird – fragil, unversöhnt und widerständig.
I. Nähe ohne Schule
Als Rudolf zur Lippe 1969 bei Theodor W. Adorno seine Habilitation aufnahm, trat er bereits als mehrfacher Außenseiter in Erscheinung: Corpsstudent in Göttingen, dessen Mitgliedschaft ab 1968 ruhte; promovierter Historiker mit einer Arbeit zur französischen Deutschlandpolitik; früh in die editorische Auseinandersetzung mit dem Surrealismus André Bretons eingebunden; seit 1960 geschult in der Praxis des Zen bei Karlfried Graf Dürckheim.
Dieser Zugang vollzog sich jenseits disziplinärer Festlegung – als Bewegung zwischen Feldern, die einander fremd bleiben sollten. Hier der Spross eines der ältesten deutschen Hochadelsgeschlechter, dort die jüdisch-marxistisch geprägte Frankfurter Schule. Diese Konstellation markiert eine theoretische Spannung, die für Zur Lippes Denken konstitutiv blieb.
Die Nähe zwischen Theodor W. Adorno und Rudolf Prinz zur Lippe war von Spannung geprägt. Sie beruhte auf einer gemeinsamen Weigerung: dem Entschluss, Denken nicht zu versöhnen, solange die Wunde unbenannt bleibt. Adornos ironischer Rufname „Prinz Lippe“, mit dem er den jungen Habilitanden bedachte, verweist auf mehr als eine biografische Marotte. In ihm verdichtet sich eine Figur, die im Horizont der Kritischen Theorie zunächst fremd wirkt und gerade dadurch ihre Produktivität gewinnt: der Dandy – eine Existenzform, die sich dem Rückzug verweigert, in der Haltung zur Form wird, ohne sich im Formalen zu erschöpfen.
Die Habilitationsschrift Naturbeherrschung am Menschen (1973/74) wurde zu einem Referenztext, weil sie Adornos Denkbewegung an einen anderen Ort verschiebt. Zur Lippe greift das dialektische Prinzip der Spannung zwischen Momenten – etwa Individuum und Gesellschaft, Wahrnehmung und Disziplin – auf, belässt sie in ihrer Unvermitteltheit und verlagert sie auf den Leib. Gerade darin liegt ihre erkenntniskritische Schärfe. Der Leib erscheint als geschichtlich sedimentierter Erfahrungsraum: geformt, dressiert, ökonomisiert – und doch nicht restlos in Funktion aufgegangen.
Diese theoretische Verschiebung steht in enger Beziehung zu der sozialen Konstellation, in der sie entstand. Die Beziehung zu Theodor und Gretel Adorno war von intellektueller Nähe geprägt, ohne in Gefolgschaft zu münden. Zur Lippe, über dreißig Jahre jünger, bewegte sich über Jahre hinweg in einem persönlichen wie intellektuellen Austausch mit beiden – eine doppelte Beziehung, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Gretel Adorno trat dabei als eigenständige intellektuelle Figur hervor; die Gespräche, die in dieser Konstellation möglich wurden, folgten keiner Schullogik. Aus dieser Nähe erwuchs eine besondere Position: Adornos Denken konnte ernst genommen, reflektiert und weitergeführt werden, ohne sich in Wiederholung zu erschöpfen. Kritische Nähe erwies sich als Voraussetzung eigenständiger Denkbewegungen.
In dieser Nähe profitierte Zur Lippe zweifellos von besonderen Privilegien. Regelmäßige Besuche, Aufenthalte in den Schweizer Feriendomizilen, Einblicke in private wie intellektuelle Räume, die anderen Studierenden verschlossen blieben, gehörten dazu. Doch diese Erfahrung führte nicht zur Imitation, sondern zur Differenz. Sein Weg ist der eines Eingeweihten ohne Gefolgschaft. Er bewegte sich im Adornoschen Denkraum, ohne ihn zu besetzen oder zu verwalten.
Seine Philosophie setzt dort an, wo Adornos Denken aus innerer Konsequenz innehält: beim Leib. Dieser Ort war bei Adorno präsent, wenn auch randständig. In seinem Werk erscheint der Leib als Schauplatz von Zurichtung, Naturbeherrschung und gesellschaftlich organisierter Gewalt. Zur Lippe radikalisiert diese Perspektive, indem er sie in den Vollzug verlegt. Der Leib fungiert weder als Versöhnungsfigur noch als naturhafter Gegenpol zur Gesellschaft. Er wird zum Ort, an dem Geschichte sich einschreibt – und an dem sich zugleich Reste artikulieren, die sich vollständiger Funktionalisierung entziehen.
Dass sich im Leib Wahrnehmungen einstellen, Reaktionen vollziehen, Irritationen entstehen, die noch keinen Sinn ergeben, bildet das Material der Kritik. Am eigenen Leibe (1978) meint: an der eigenen Zurichtung jene Differenzen aufzuspüren, die sich der totalen Integration widersetzen. Der Leib ist keine Wahrheit. Er ist ein Ort, an dem Wahrheit scheitert, sofern sie sich nicht zur Ideologie verhärten will.
II. Leibliche Negativität
Mit dieser Verschiebung verändert sich auch der Begriff der Negativität. Während Adornos Denken Negation primär im Medium des Begriffs vollzieht, rückt Zur Lippe den Ort der Negativität in den Vollzug selbst. Der Widerspruch artikuliert sich zuerst in der Wahrnehmung. Der Leib sperrt sich gegen Identität.
Damit entzieht sich Zur Lippe zugleich einer phänomenologischen Vereinnahmung. Wahrnehmung fungiert bei ihm nicht als sinnstiftender Ursprung, nicht als Boden der Evidenz. Dieses Vorgehen entspricht dem dialektischen Prinzip Adornos: Zwei Momente werden in Spannung gehalten, ohne dass eines das andere vollständig absorbiert. Zur Lippe überträgt diese Struktur auf den Leib – Leib und Gesellschaft, Wahrnehmung und Disziplin –, so dass Negativität und Widerstand unmittelbar in der leiblichen Erfahrung wirksam werden. Dialektik wird hier nicht nur als abstraktes Prinzip verstanden, sondern als leiblicher Vollzug. Sie ist durchzogen von Geschichte, von Disziplin, von kultureller Codierung. Gerade deshalb kann sie zum Ort der Kritik werden. Negativität zeigt sich leiblich als Verzögerung, als Unangemessenheit zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Anforderung und Bewegung. Sie ist situativ, fragil, nicht verfügbar.
In dieser Perspektive wird der Leib zum Träger einer Kritik, die nicht argumentiert, die widerfährt. Er opponiert nicht, er entzieht sich. Seine Widerständigkeit besteht in der Weigerung, vollständig aufzugehen. Darin bleibt Zur Lippe Adornos Denken näher, als es jede begriffliche Übernahme leisten könnte: Die Dialektik wird dort situiert, wo ihre Spannung nicht mehr synthetisierbar ist.
III. Pädagogik als Unterbrechung
Adornos Misstrauen gegenüber Didaktik war Rudolf zur Lippe vertraut: Philosophie soll exponieren und fordern, statt anzuleiten. Die von ihm herausgegebene Philosophische Terminologie (1973/74), eine Bearbeitung von Adornos Vorlesungsmitschriften aus dem Wintersemester 1965/66, verkörpert diese Haltung – Denken als Zumutung. Philosophische Sprache wird zum Austragungsort der Sache selbst.
Diese Haltung prägt auch Zur Lippes spätere Arbeiten zu Wahrnehmung, Bewegung und Sinnlichkeit. Sie zielen auf Unterbrechung: der automatisierten Wahrnehmung, der verinnerlichten Disziplin, der scheinbar selbstverständlichen Körperlichkeit. Wahrnehmen bedeutet hier, irritierbar zu werden. Bewegung heißt, Grenze zu erfahren.
In seiner Lehre setzte Zur Lippe das Medium des Films als Unterbrechung ein. Seine Arbeit über den Ballett-Erneuerer Maurice Béjart suchte die Konfrontation. Der akademische Diskurs verliert seine Statik; Geschmeidigkeit und Fragilität des Leibes treten hervor, ohne in Erklärung aufzugehen. Der Film exponiert, was begrifflich nicht einholbar ist – Bewegung als Widerstand gegen ihre eigene Fixierung.
Zur Lippes künstlerische Praxis folgt derselben Logik. Die 48 Collagen zu Casanova, 1967 zusammen mit Bernhard Heiliger und Alexander Camaro geschaffen, sind keine Werkinterpretation. Sie übersetzen die historische Figur in ein visuelles Spannungsfeld, in dem Begehren, Disziplin und Maskerade aufeinanderprallen. Theater, Bühnenbilder, kuratorische Arbeit – diese Tätigkeiten bilden keinen Gegenpol zur Theorie. Sie sind deren leibliche Entfaltung. Kunst erscheint als Übung der Wahrnehmung, die ihre eigenen Bedingungen befragt, ohne sie zu transzendieren.
In Sinnenbewusstsein (1987) und Das Denken zum Tanzen bringen (2010) wird diese Praxis theoretisch reflektiert, ohne domestiziert zu werden. Ästhetische Erfahrung bleibt Widerstandsmoment – gerade weil sie sich der totalen Funktionalisierung entzieht, ohne zu retten. Die Irritation, die von Zur Lippes Interventionen ausgeht, ist kalkuliert. Sie zielt auf Verzögerung des Urteils, auf Suspendierung eingeübter Wahrnehmungsmuster – Einsicht wäre zu schnell. Kritik ereignet sich als leiblicher Vollzug, bevor sie begrifflich wird.
IV. Übung als leibliche Praxis
Bei Zur Lippe spielt der Begriff der Übung eine besondere Rolle. Er bezeichnet eine Praxis des Verlangsamens, des Aussetzens routinierter Abläufe – ein Geübtwerden im Nicht-Funktionieren, fern jeder Selbstoptimierung oder Kompetenzeinübung. Zeit erscheint als Widerstand, dem sich die leibliche Übung aussetzt; sie erzeugt Verzögerung und setzt der Beschleunigung eine andere Temporalität entgegen, ohne sie zu romantisieren. Erfahrung ereignet sich dort, wo Zeit sich der vollständigen Zweckmäßigkeit entzieht – eine Nähe zu Adorno bleibt spürbar.
Diese leibliche Praxis ist untrennbar verbunden mit Zur Lippes programmatischem Denken. Reflektieren und Üben, Wahrnehmen und Handeln müssen einander durchdringen; die Sinne, der Leib, die tätige Wahrnehmung tragen eine praktische Negativität, die das Tun selbst kritisiert und verlangsamt – sie instrumentalisieren sich nicht zum bloßen Erkenntnisgewinn. Die Ästhetik wird so zur Spur von Übung, in der Reflexion, Leiblichkeit und Widerstand zusammenfallen.
Die Zen-Praxis, der Zur Lippe ab 1960 bei Karlfried Graf Dürckheim folgte, durchzieht seine leibliche Arbeit und ästhetische Praxis bis ins hohe Alter. Sie manifestiert sich in Zeichnungen, Malereien und Körperübungen, die eine Zazen-ähnliche Konzentration und Stille artikulieren. 1974 legte er an der Universität Oldenburg den Garten der Stille (Prinzenpark) an: Kieswege, Grabplatten und ein Holzsteg verschränken Bewegung, Wahrnehmung und Reflexion. Der Garten wird selbst zur Spur leiblicher Übung, in der Präsenz, Fragilität und Widerständigkeit erfahrbar werden, ohne sich in Identität aufzulösen.
Malerei, Bewegung und Sitzen werden Vollzug der Entleerung; Präsenz wird fixiert, Identität suspendiert. Zen wird so zur leiblich erfahrbaren Negativität, zur Praxis der temporären Suspendierung des Selbst – ein riskanter Zustand, der keine Wahrheit verspricht, sondern die Fragilität der Erfahrung exponiert. Die Nähe zu Dürckheim bleibt problematisch, besonders angesichts seiner NS-Vergangenheit; für Zur Lippe bildet sie keinen Rückgriff auf Autorität, sondern einen Punkt kritischer Reflexion. Seine Praxis operiert asketisch und phänomenologisch präzise, entzieht sich jeder nationalen, metaphysischen oder ideologischen Zuschreibung und verweist auf ein Üben, das Eigenständigkeit, leibliche Erfahrung und Widerstand wahrt. Zen, in Garten, Körper- und Kunstpraxis, wird so zum Raum, in dem Präsenz, Fragilität, Reflexion und Widerständigkeit zusammenfallen, ohne in Konsistenz, Sinn oder Selbstbehauptung aufzugehen – eine Verkörperung der Poiesis.
V. Der Ort als Haltung: Hude
Die leibliche Praxis, die sich in Zen-Garten, Malerei, Bewegung, Zazen-artiger Konzentration und in der Reflexion der POIESIS-Grundsätze manifestierte, findet ihre räumliche Fortsetzung in Hude. Dass Rudolf zur Lippe von 1974 bis 2013 im Untergeschoss des ehemaligen Abthauses des Zisterzienserklosters lebte, ist mehr als ein biografisches Faktum; der Ort selbst wird zur Verdichtung einer Haltung.
Das säkularisierte Kloster bietet keine metaphysische Deckung, keinen Schutzraum vor Geschichte. Es ist Ruine, Fragment, Überrest einer Ordnung, deren religiöse Verbindlichkeit verschwunden ist, während ihre räumliche Disziplin fortwirkt. Der Wohnort im Untergeschoss markiert eine bewusste Entscheidung für Reduktion. Er steht quer zur akademischen Repräsentationslogik und verweigert den Gestus der Innerlichkeit. Das Untergeschoss ist kein Ort der Versenkung, eher der Ausrichtung; Denken erhält hier eine räumliche Grenze: niedrige Decken, Kühle, Materialität, Geschichtsschichten.
Die von Zur Lippe initiierten Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit (ab 1989) transformierten Hude zeitweise in einen Knotenpunkt internationaler Begegnung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Kontexten trafen hier aufeinander. Öffentlichkeit entstand durch Konzentration, nicht durch Expansion. Der Ort widersetzt sich der Logik permanenten Outputs, ohne einen Gegenentwurf der Kontemplation anzubieten.
Diese Wahl der Peripherie war keine erzwungene Marginalisierung. Zur Lippe war ab 1974 Ordinarius für Soziologie in Oldenburg, Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin (1981/82), Leiter des Bundesmodellversuchs „Einphasige Lehrerausbildung“, Herausgeber der Zeitschrift POIESIS, Initiator der international gezeigten Ausstellung Geometrisierung des Menschen (1982). Seine Position war institutionell gefestigt. Dass er sie dezentral gestaltete, war Programm. Hude wird so zum Raum, in dem leibliche Praxis, ästhetische Reflexion und institutionelle Arbeit zusammenfallen – ein Ort, der die Poiesis des Denkens, Fühlens und Handelns selbst verkörpert.
VI. Der Dandy als kritische Figur
Die häufige Beschreibung Zur Lippes als eine Art Zen-Meister greift zu kurz. Näher liegt die Figur des Dandys, befreit von ihrem modischen Klischee. Der klassische Dandy, wie ihn Baudelaire beschreibt und Benjamin interpretiert, verkörpert eine soziale Nicht-Identität, die sich im Stil artikuliert, ohne im Stil aufzugehen. Dass diese Haltung keine bloße Theorie war, manifestierte sich bis in seine späten Berliner Jahre als eine Form der leiblichen Präsenz, die denen, die ihn persönlich kannten, als „elegante, überschlanke Gestalt“ mit „scharf geschnittener Physiognomie“ in Erinnerung blieb.
Der Dandy entzieht sich der Zweckmäßigkeit, indem er Präzision kultiviert. Seine Existenzform verweigert unmittelbare Verwertbarkeit, ohne in Exzess oder Provokation auszuweichen. Haltung entsteht durch Formstrenge. In diesem Sinn lässt sich Zur Lippe als Dandy der Kritischen Theorie lesen: als jemand, der soziale Erwartungen unterläuft, ohne sie spektakulär zu brechen. Ihm hing, wie es im Rückblick auf sein Leben hieß, ein „Hauch von Unzeitgemäßheit“ an – eine bewusste Distanznahme zur hektischen Aktualität des akademischen Betriebs.
Seine äußere Erscheinung – die kontrollierte Schlankheit, die Zurücknahme der Gestik, die Konzentration auf sorgfältig gewählte Formen – korrespondiert mit einer Denkweise, die Differenz praktiziert statt behauptet. Der Dandy wird zur leiblichen Figur der Nicht-Identität. Diese Haltung bewahrte ihre politische Schärfe selbst im hohen Alter und im privaten Nahraum: Wenn Zur Lippe als Mitorganisator der Initiative „Schönheit gegen Gewalt“ mit der Musik von Händel und Purcell gegen die Kriminalität auf Berliner Plätzen vorging, dann war dies kein ästhetischer Eskapismus. Es war die Intervention des Dandys, der der Formlosigkeit der Gewalt die widerständige Kraft der ästhetischen Form entgegensetzt.
Der ironische Prinzentitel, den Zur Lippe führte und zugleich unterlief, gehört zu dieser Haltung. Herkunft wird nicht verleugnet, aber auch nicht naturalisiert. Sie erscheint als Formmaterial, das bewusst eingesetzt wird, um Distanz zu erzeugen. Die aristokratische Geste fungiert als leere Form, die ihren Inhalt verloren hat und gerade dadurch kritisch wirksam wird – als ein „aristokratisch wirkendes, dabei ausgesprochen liebenswürdiges“ Auftreten, das die Konventionen der bürgerlichen Gelehrtenrepublik sanft, aber bestimmt transzendierte. Diese Haltung blieb nicht im Gestus stehen. Sie materialisierte sich in Interventionen, die theoretische Diagnose in leibliche Erfahrung übersetzten.
VII. Zwischen Diagnose und Praxis
Zur Lippes theoretische Arbeit blieb nicht auf den Text beschränkt. Die Ausstellung Geometrisierung des Menschen, die er 1982 mitinitiierte und international präsentierte, stellt eine Form angewandter Kritischer Theorie dar. Sie übersetzt theoretische Diagnosen in sinnlich erfahrbare Konstellationen. Sichtbar wird, wie Rationalität sich in Körperbilder, Bewegungsnormen und Raumordnungen einschreibt.
Diese Praxis unterscheidet sich von pädagogischen Vermittlungsformen. Sie zielt auf Irritation statt auf Einsicht. Die Ausstellung exponiert, was alltäglich geworden ist, und entzieht es damit seiner Selbstverständlichkeit. Kritik ereignet sich als Wahrnehmungsverschiebung. In diesem Sinne lässt sich Zur Lippes Intervention als dialektische Praxis lesen: Die Pole Theorie und Praxis, Diagnose und Wahrnehmung bleiben in Spannung, ohne synthetisch aufgehoben zu werden. Die Widerständigkeit der leiblichen Erfahrung folgt damit direkt dem Prinzip der dialektischen Vermittlung.
Ähnlich verhält es sich mit der Zeitschrift POIESIS – praktisch-theoretische Wege ästhetischer Selbsterziehung. Schon der Titel markiert ein Paradox. Selbsterziehung erscheint als Unterbrechung eingeübter Selbstverhältnisse. Praxis wird nicht affirmiert, sie wird problematisiert.
In diesen Interventionen zeigt sich Zur Lippes Nähe zu einem Adornoschen Praxisbegriff, der Praxis nicht gegen Theorie ausspielt. Praxis ist hier kein Ausweg, eher ein Risiko. Sie setzt den Leib der Kritik aus, ohne ihm einen Sinn zu verleihen.
VIII. Grenzgängertum als Theorieform
Dass Rudolf zur Lippe ein Grenzgänger blieb, ist Ausdruck einer Theorieform. Er gründete keine Schule, etablierte kein System, hinterließ kein Opus magnum, das sich kanonisieren ließe. Seine Bücher – Am eigenen Leibe, Vom Leib zum Körper, Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung – wirken als Interventionen. Sie öffnen Denkbewegungen, ohne sie zu schließen.
Dieses Grenzgängertum bewahrt das Denken vor Institutionalisierung ebenso wie vor Marginalisierung. Zur Lippe bewegt sich zwischen Philosophie, Körperpraxis, Ästhetik und Geschichtsanalyse, ohne diese Felder zu synthetisieren. Die Übergänge bleiben spannungsvoll.
Gerade darin liegt seine Aktualität. In einer Gegenwart, in der Körperdiskurse zwischen Selbstoptimierung und Authentizitätsversprechen oszillieren, insistiert Zur Lippe auf der historischen Beschädigung des Leibes. Wahrnehmung wird nicht gefeiert, sie wird befragt. Achtsamkeit verliert ihren therapeutischen Überschuss und erscheint als riskante Praxis.
Eine Kritische Theorie nach der Kritischen Theorie kann hier ansetzen. Sie gewinnt keine neuen Sicherheiten, sie verschiebt den Ort der Kritik. Denken findet nicht mehr ausschließlich im Begriff statt, es vollzieht sich in der Haltung, in der Übung. Theorie wird leiblich, ohne empiristisch zu werden. Praxis wird kritisch, ohne sich zu legitimieren. Worin genau diese Verschiebung besteht, zeigt sich erst im Vergleich mit anderen theoretischen Positionen.
IX. Theoretische Konstellationen
Rudolf zur Lippes Denken lässt sich nicht entlang einzelner Disziplinen oder Schulen ordnen. Seine Arbeiten entfalten sich vielmehr in einer Konstellation theoretischer Bezugspunkte, deren Spannung produktiv gehalten wird. Diese Konstellation markiert seine Eigenposition innerhalb der Kritischen Theorie – und macht zugleich deutlich, was es heißt, den Ort der Kritik zu verschieben.
Im Verhältnis zur Phänomenologie nimmt Zur Lippe eine doppelte Distanz ein. Zwar rückt er Wahrnehmung, Bewegung und Leiblichkeit in den Fokus, doch verweigert er ihnen den Status eines ursprünglichen Sinnbodens. Wahrnehmung trägt die Spuren ihrer Geschichte: durchzogen von Disziplinierungen, kulturellen Codes, sozialen Erwartungen. Der Leib wird zum Medium gesellschaftlicher Einschreibung. Gerade diese Geschichtlichkeit bewahrt Zur Lippes Leibbegriff vor jeder ontologischen Aufladung.
Auch gegenüber der philosophischen Anthropologie bleibt Zur Lippe zurückhaltend. Der Leib begründet keine Wesenslehre des Menschen. Er stiftet weder Identität noch Einheit. Seine Bedeutung liegt in der Negativität, die er in sich trägt: als Ort von Verzögerung, Widerstand, Unangemessenheit. Diese Negativität entsteht aus der Spannung zwischen Zurichtung und Wahrnehmung, zwischen gesellschaftlicher Anforderung und leiblicher Reaktion. Der Leib wird so zum Austragungsort von Geschichte.
Im Vergleich zu Foucaults Analyse der Disziplinarmacht zeigt sich eine weitere Differenz. Zur Lippe teilt das Interesse an Körpertechniken, Raumordnungen und Bewegungsnormen. Doch während Foucault diese primär diskursiv rekonstruiert, insistiert Zur Lippe auf der leiblichen Erfahrung dieser Einschreibungen. Macht wird gespürt, geübt, erlitten. Die Kritik bleibt damit näher am Vollzug, ohne sich im Empirischen zu erschöpfen.
Zentral für diese Konstellation ist der Begriff der Übung. Übung meint bei Zur Lippe eine Unterbrechung eingeübter Selbstverhältnisse. Geübt wird das Aussetzen von Funktionalität, das Verweilen in der Verzögerung, das Nicht-Aufgehen im Zweck. In dieser Perspektive wird Übung zur Praxis der Entsubjektivierung. Sie suspendiert Identität, ohne sie zu zerstören. Gerade darin bewahrt sie einen kritischen Kern, der sich gegen therapeutische oder spirituelle Vereinnahmung sperrt.
Auch der Begriff der Zeit erfährt hier eine Verschiebung. Zeit wird als gesellschaftlich organisierte Ressource lesbar. Leibliche Übung erzeugt Zeitbruch. Sie entzieht sich der Logik der Beschleunigung, ohne in Kontemplation zu flüchten. Erfahrung wird möglich, wo Zeit sich der vollständigen Verwertung widersetzt. Diese zeitkritische Dimension verbindet Zur Lippes Denken eng mit Adornos Kritik der instrumentellen Vernunft, erweitert sie jedoch um eine leibliche Perspektive.
In dieser Konstellation zeigt sich schließlich das spezifische Verhältnis von Begriff und Wahrnehmung. Zur Lippe verabschiedet den Begriff nicht. Er verschiebt seinen Ort. Der Begriff entspringt der geschichtlichen Erfahrung des Leibes. Wahrnehmung fungiert als Vorfeld des Begriffs, als dessen Entstehungsraum. Die Dialektik bleibt wirksam, doch sie vollzieht sich im Verhältnis von Wahrnehmen, Bewegen und Reflektieren.
So erweist sich Zur Lippes Werk als eine Theorie, die an der Kritischen Theorie festhält, indem sie deren Grenzen ernst nimmt. Sie erweitert den Ort der Kritik, ohne ihren Anspruch zu relativieren. Denken bleibt negativ, auch dort, wo es leiblich wird. Gerade darin bewahrt es seine Schärfe und schlägt die Brücke von der Analyse zur gelebten Haltung.
X. Der unversöhnte Rest
Zur Lippes Denken kulminiert in einer Haltung, die sich nicht nachahmen lässt. Der Dandy war die konsequente Form dieser Haltung – keine Maskerade, keine ästhetische Pose, sondern Existenzweise, in der Kritik leiblich wird. Haltung meint hier: eine Form zu finden für das, was sich nicht synthetisieren lässt. Sie entzieht sich der Reproduktion, weil sie an eine konkrete Existenzform gebunden ist. Diese Bindung macht sie zugleich exemplarisch. Sie zeigt, dass Kritik eine Frage der Lebensform bleibt, ohne je in Lebensphilosophie aufzugehen.
Der Leib, von dem hier die Rede ist, weiß um seine Zurichtung. Gerade deshalb hört er nicht auf, wahrzunehmen. Wahrnehmung wird zur Form von Würde, indem sie sich der völligen Anpassung entzieht – ohne Rettung zu versprechen. Scheitern erscheint hier als Ort der Form.
Das ist keine Lösung. Es ist eine Position. Eine Position, die im Unversöhnten verharrt, ohne zu resignieren. In dieser Konsequenz bleibt Rudolf zur Lippe Adorno treu: nicht durch Wiederholung seiner Gesten, durch die Beharrlichkeit, Versöhnung zu verweigern, solange sie zu früh käme.
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Biografische Notiz
Rudolf Prinz zur Lippe (1937–2019), geboren in Berlin, studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie in Göttingen, Bonn und Paris. Nach der Promotion zur französischen Außenpolitik begann er seine Habilitation bei Theodor W. Adorno an der Universität Frankfurt am Main. Diese Habilitation wurde nach Adornos Tod 1969 mit der Arbeit Naturbeherrschung am Menschen abgeschlossen (1973/74).
Von 1974 bis zu seiner Emeritierung war Zur Lippe Professor für Ästhetik und Theorie der Gesellschaft an der Universität Oldenburg. Seine Arbeit bewegte sich zwischen Philosophie, Soziologie, Kunst und Körperpraxis. 1989 initiierte er in seinem langjährigen Wohnort Hude die Karl-Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit.
Zur Lippe gilt als einer der wenigen, die die Kritische Theorie um eine leibbezogene Perspektive erweiterten, ohne deren negativen Impuls aufzugeben, und zugleich als Grenzgänger zwischen akademischer Praxis, bildender Kunst, Theaterregie und kuratorischer Tätigkeit.
Wichtige Schriften
Zur Lippe, R. (1975) Bürgerliche Subjektivität. Autonomie als Selbstzerstörung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp 749).
Zur Lippe, R. (1978) Am eigenen Leibe. Zur Ökonomie des Lebens. Frankfurt am Main: Syndikat.
Zur Lippe, R. (1987) Sinnenbewusstsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Rowohlts Enzyklopädie 423).
Zur Lippe, R. (1988) Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Rowohlts Enzyklopädie 446).
Zur Lippe, R. (2010) Das Denken zum Tanzen bringen. Philosophie des Wandels und der Bewegung. Freiburg/München: Karl Alber.

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