Alfred Sohn-Rethel in Süditalien

Zwischen Porosität und theoretischer Entwicklung

Alfred Sohn-Rethel (1899–1990) gehört zu jenen Denkern, deren theoretische Radikalität sich erst spät, aber umso nachhaltiger Bahn brach. Seine prägenden Jahre in Süditalien, verbracht zwischen 1924 und 1927 im stillen Rückzug in Positano und im pulsierenden Chaos Neapels, markieren eine entscheidende biographische Zäsur. Mehr noch: Sie sind die Geburtsstunde eines Denkens, das weder in akademischer Systematik noch in bloßer Anschauung verharrte, sondern das Zwischenspiel von Erfahrung und Theorie, von Leben und Erkenntnis in seiner ganzen Spannung auszuhandeln suchte.

Es ist eine paradoxe, beinahe dialektische Konstellation: Ausgerechnet die Distanz zu den Zentren des akademischen Diskurses – die Peripherie des mediterranen Südens – wurde für Sohn-Rethel zur produktiven Zone einer neuen Form von Kritik. Diese verdichtete sich später in seiner Warenformkritik. Hier, an der Grenze zwischen Kontemplation und Aktion, zwischen der durchlässigen Ruhe Positanos und dem anarchischen Stimmengewirr Neapels, entstand ein Denken, das sich die Porosität der Welt als Denkfigur aneignete. In Anlehnung an Walter Benjamins berühmte Beschreibung Neapels als „poröse Stadt“ (1925: „Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ’so und nicht anders‘.“), trug diese Metapher mehr als nur geologische oder städtebauliche Bedeutung. Sie fungierte als Prinzip für das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, von Bewusstsein und materieller Praxis.

Diese Jahre waren für Sohn-Rethel eine Zeit intensiver Beobachtung und geduldigen Erkennens. Die Schärfe der Theorie speiste sich aus einer melancholischen Wachheit gegenüber dem Lebensfluss und seiner gesellschaftlichen Verfasstheit. Im Blick auf zerklüftete Felsen, poröse Tuffsteinmauern und die Mischung aus Altem und Neuem, Feudalem und kapitalistischem Keim, entwickelte sich eine Sensibilität für flüchtige Übergänge und ambivalente Spannungen, die den fixen Begriffen und geschlossenen Systemen den Rang ablief. Diese Sensibilität zog sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk und verweigerte die Verabsolutierung eines Denkens, das die Gesellschaft entweder als bloße Materie oder das Bewusstsein als autonome Instanz fasst.

Sohn-Rethels Süditalien-Jahre sind damit zugleich ein Beispiel für die Dialektik von Distanz und Nähe, von Rückzug und Engagement. Aus der räumlichen Entfernung zum akademischen Zentrum ergab sich die Möglichkeit, den Blick zu schärfen – nicht als exotische Flucht, sondern als praktische Theoriearbeit, die das Konkrete nicht nur beschreibt, sondern es zugleich durchdringt und verallgemeinert. Diese Haltung entspricht dem, was Benjamin später als „konkrete Totalität“ beschrieb: das Sich-Einlassen auf das Einzelne, ohne die Verbindung zum Allgemeinen zu verlieren.

In diesem Sinne sind Positano und Neapel nicht nur geographische Orte, sondern figurativer Raum einer neuen Erkenntnistheorie. Sie bilden die Kulisse für eine Erfahrung, in der die Gegensätze von Geist und Materie, von Freiheit und Notwendigkeit, von Individuum und Gesellschaft nicht aufgelöst, sondern in produktive Spannung gebracht werden. Die Porosität, die Sohn-Rethel hier als Denkfigur entwickelte, wird so zum Symbol einer Philosophie des Übergangs, die sich nicht mit Festschreibungen begnügt, sondern der Bewegung, dem Fließen, dem Dazwischen-Sein Raum gibt.

Gleichzeitig spiegeln diese Jahre eine Melancholie wider, die in ihrer Dichte und Schärfe an die Reflexionen Adornos und Benjamins erinnert. Es ist eine Melancholie, die nicht resigniert, sondern aufmerksam ist – eine Form des Denkens, die den Bruch, die Lücke, das Unvollständige nicht verschweigt, sondern sie als fundamentale Erkenntnismomente begreift. Die südliche Landschaft mit ihrer Ruinenhaftigkeit und Zerbrechlichkeit wird so zur Allegorie einer Gesellschaft im Umbruch – und zu einem Prüfstein für die theoretische Innovation, die sich dieser Fragilität nicht entzieht.

Nicht zuletzt prägte die Erfahrung von körperlicher und geistiger Arbeit, von Aktivität und Kontemplation, Sohn-Rethel in dieser Zeit. Sein Denken war nie abstrakt, sondern immer leibhaftig: Die körperliche Erfahrung der Stadt, ihrer Gassen, Märkte und Menschen war untrennbar mit der theoretischen Reflexion verbunden. Hier fand sich jene Dialektik von Praxis und Theorie, die seine spätere Kritik der Warenform und des Bewusstseins grundlegend strukturierte.

So bleibt das süditalienische Exil nicht nur eine Episode biographischer Bedeutung, sondern ein paradigmenbildender Abschnitt in der Geschichte kritischen Denkens. Es war ein Raum, in dem die Verknüpfung von Erfahrung und Reflexion, von Körper und Geist, von Nähe und Distanz auf ebenso subtile wie produktive Weise erkundet wurde – eine Erfahrung, deren Nachhall bis heute in der philosophischen Diskussion nachwirkt.

Die Konstellation von 1925: Kritische Theorie am Golf von Neapel

Im September 1925 wurde der Golf von Neapel zu einem außergewöhnlichen Schauplatz intellektueller Konstellationen. Dieser Raum verband nicht nur Körper und Geist, Vergangenheit und Gegenwart, Theorie und Praxis in einem zarten Geflecht, das einerseits der Flucht aus der Erstarrung der Weimarer Republik diente, andererseits jedoch den Keim einer radikalen Kritik an der bestehenden Welt in sich barg. Die Landschaft selbst – mit ihren schroff zerklüfteten Felsen, den pastellfarbenen Häusern, die sich sanft an die Hänge schmiegten, und dem tiefblauen, verbindenden und trennenden Wasser – wurde zu einem eigentümlichen Wahrnehmungsraum. Hier zerfiel die Zeit in ihre vielfältigen Stimmen; Geschichte offenbarte sich nicht als der geradlinige Fortschritt der Aufklärung, sondern als vielschichtige Schichtung, als simultanes Aufleuchten von Gegenwart und Vergangenheit. Ein atmosphärisches Geflecht entstand, das nicht nur Gespräche nährte, sondern ein Denken formte, das in beständiger Bewegung blieb: offen, unabschließbar, verhaftet in jener Dialektik, die keinen Stillstand kennt.

Diese Jahre am Golf waren keine bloße Episode des Exils oder der Erholung, sondern ein philosophisches Experimentierfeld. Als Laboratorium wirkte die Region mit ihrem Wechselspiel von schroffer Natur und kulturhistorischem Reichtum wie ein Brennglas, das den Blick schärfte und zugleich die Konturen der Wirklichkeit verschwimmen ließ. All dies wurde zur figurativen Matrix eines Denkens, das die Risse und Brüche der Moderne nicht als Störungen, sondern als ihre wahren Strukturmomente verstand.

Die Anwesenheit so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie Walter Benjamin, Asja Lacis, Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno verlieh diesem Ort eine eigentümliche Aura. Benjamin, der sich schon im Vorjahr seinen Neapel-Reflexionen widmete, fand hier eine produktive Melancholie – einen Modus der Aufmerksamkeit für das Fragmentarische, das Unvollständige, das stets der totalisierenden Vernunft entglitt. Sein Denken, geprägt von der Suche nach den verlorenen Winkeln der Geschichte und den stillen Formen der Erinnerung, fand im Golf von Neapel einen resonanten Raum, in dem sich Theorie und Erfahrung auf besondere Weise verschränkten.

Der junge Adorno durchstreifte im Herbst 1925, begleitet von seinem Mentor Siegfried Kracauer, die Region nicht als bloßer Tourist, sondern als Suchender nach den verschütteten Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens. Diese Reise – ein Dialog zwischen Mentor und Schüler – steht symbolisch für jene Bewegung weg von der deutschen akademischen Institutionalisierung, um den Erfahrungsraum der Realität neu zu erschließen. Es war eine Suche nach jenen Bruchstellen, an denen die Gesellschaft ihre Widersprüche unverhüllt zeigte und an denen Kritik nicht abstrakt blieb, sondern an der konkreten Lebenswelt ansetzte.

Der Süden fungierte hier als kritische Distanz zur deutschen Ideologie – nicht als simplifizierende Gegenposition, sondern als Raum, der den Blick auf die durch Rationalisierung verborgenen Schichten der sozialen Wirklichkeit freigab. Wo im Norden das Kapital seine Herrschaft mit technokratischer Eindeutigkeit durchzusetzen begann, offenbarte sich im Süden noch eine Komplexität des Sozialen, die Elemente von Tradition, Körperlichkeit, unmittelbarer Produktion und patriarchalischen Strukturen bewahrte. Dieses Nebeneinander von Alt und Neu, von Fortschritt und Verfall, bot nicht nur eine reichhaltige Erfahrungswelt, sondern auch die materielle Basis einer Kritik, die sich der Gefahren der Abstraktion bewusst war.

In dieser dialektischen Bewegung – zwischen Sehnsucht und Kritik, zwischen Verlorenheit und Hoffnung – wird die Landschaft selbst zu einer Metapher für die Dialektik der Kritischen Theorie. Sie zeigt, dass Geschichte nicht als linearer Fortschritt zu verstehen ist, sondern als komplexes Geflecht, in dem sich Bruchstücke von Erinnerung und Versprechen ineinander verschränken. Schönheit und Zerfall, Antike und Moderne, Natur und Kultur – all dies bildete hier ein vielstimmiges Konzert, dessen Klänge die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Zukunft, Theorie und Praxis verwischten.

So wurde der Golf von Neapel zum geistigen Resonanzraum, in dem die frühen Impulse der Kritischen Theorie ihre Gestalt annahmen – ein Denken, das sich weigerte, die Welt als abgeschlossenes Ganzes zu begreifen, das die Offenheit des Fragmentarischen und die Spannung der Widersprüche als produktive Momente anerkannte und aus ihnen die Kraft einer radikalen Gesellschaftskritik schöpfte. In dieser Atmosphäre, geprägt von Melancholie der Erinnerung und unerschütterlicher Hoffnung auf Veränderung, fand das Denken von Benjamin, Adorno und ihren Zeitgenossen eine neue Richtung: nicht in dogmatischen Schlusssätzen mündend, sondern in der fortwährenden Aufgabe, das Leben selbst kritisch zu reflektieren und die Bedingungen einer möglichen Emanzipation auszuloten.

Positano als Lebensmittelpunkt und theoretisches Laboratorium

Alfred Sohn-Rethel, Spross einer berühmten Düsseldorfer Künstlerfamilie, ließ sich Mitte der 1920er Jahre in Positano nieder. Fernab der väterlichen Tradition wollte er sich jenen Marx-Studien widmen, die ihn später als originellen Denker der Kritischen Theorie auszeichnen sollten. Seine Herkunft war ein paradoxes Erbe: Als Urenkel von Historien- und Porträtmalern wie Alfred Rethel, Karl Ferdinand Sohn und August Grahl war er tief in die visuelle Welt eingebettet, doch sein Weg führte nicht in die Malerei, sondern in die Philosophie. Die Familie – großbürgerlich, kunstversessen, mit engen Verbindungen in die Industrie und Hochfinanz – hatte für ihn andere Pläne: Um eine „zweite Malerkarriere“ zu verhindern, wuchs Alfred zeitweise in einem „amusischen“ Haushalt auf – bei dem mit der Familie befreundeten Düsseldorfer Stahlindustriellen Ernst Poensgen. Dieser liberale Mentor, Ziehvater und spätere Förderer ermöglichte ihm nicht nur finanziell, sondern auch geistig jenen Freiraum, den es brauchte, um sich vom kulturellen Erbe seiner Herkunft zu lösen.

Zu Weihnachten 1915 wünschte sich Alfred von Poensgen die drei Bände des Kapital, die er auch erhielt – ein Geschenk, das rückblickend wie ein Grundstein wirkt: für eine Philosophie, die nie ganz aus dem Geist der Theorie, sondern immer auch aus der Praxis, aus der gesellschaftlichen Formation selbst gedacht war. Diese frühe Lektüre mündete in ein disziplinübergreifendes Studium: zunächst Chemie in Darmstadt, dann Ökonomie, Soziologie und Philosophie in Heidelberg und Berlin. Begegnungen mit Denkern wie Emil Lederer, Alfred Weber, Heinrich Rickert und Ernst Cassirer prägten ihn – aber wirklich formen konnte er sich nur im Rückzug.

Nach ersten Studienjahren und der Geburt seiner Tochter Brigit im Jahr 1921 zog sich Alfred 1922 für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Marxschen Kapital nach Gaiberg zurück. Die wirtschaftlich instabile Lage der frühen Weimarer Jahre führte bald darauf zu einem längeren Aufenthalt in Italien. Zwischen 1923 und 1924 lebte die junge Familie zunächst in der Villa seines Onkels Otto Sohn-Rethel in Anacapri auf der Insel Capri – ein Ort, der durch seine Abgelegenheit und künstlerische Aura zum Vorraum jener Erfahrung wurde, die Positano später verdichten sollte. Otto, ein kunstsinniger Einzelgänger mit Hang zur klassischen Moderne, lebte dort zurückgezogen in einer Lebensform, die Alfred zugleich als Schutzraum und Experimentierfeld empfand. Capri war nicht bloß Exil vor der deutschen Inflation – es war ästhetisch aufgeladenes Terrain, in dem sich familiäre Nähe und geistige Abgrenzung durchdrangen.

Doch der eigentliche Fokus seiner italienischen Jahre verschob sich bald: Zwischen 1924 und 1927 wurde Positano für Alfred Sohn-Rethel weit mehr als ein Aufenthaltsort. Es entwickelte sich zu einem Lebensmittelpunkt im emphatischen Sinne – einem geistigen wie existenziellen Terrain, das nicht allein in topographischen Koordinaten aufging. Hier an der Amalfitana, wo sich das Meer unter der Sonne kräuselte wie ein philosophischer Gedanke in seiner Entfaltung, begann eine entscheidende Phase der Sammlung, der Distanz, der produktiven Entbundenheit.

Das Zentrum dieses Lebens war das Haus seines anderen Onkels, Karli Sohn-Rethel – jenes Malers, der sich mit feiner Entschiedenheit aus der Berliner Kunstszene zurückgezogen hatte. Nicht aus Resignation, sondern aus der Überzeugung, dass sich künstlerische Wahrheit nur im Abseits, im Schweigen, im Licht eines anderen Ortes einholen lässt. Hoch über dem Meer gelegen, an den Hang geschmiegt wie ein Gedanke an ein früheres Leben, war das Haus zugleich Wohnstätte und Denkraum, Familienheim und Laboratorium. Das salzige Wind gezeichnete Mauerwerk barg eine stille Architektur des Übergangs: einfache, lichtdurchflutete Zimmer, einen Innenhof mit wucherndem Jasmin und eine Terrasse, auf der man abends das Schweigen des Himmels hören konnte.

Hier lebte Alfred mit seiner Frau Tilla Henninger, einer Musikerin, deren Sensibilität und Bildung ihn intellektuell wie emotional begleitete. Ihre Gegenwart war nicht bloß familiärer Hintergrund, sondern Teil jenes vielschichtigen Gewebes von Alltag und Theorie, das Positano für ihn so fruchtbar machte. Ihre gemeinsame Tochter Brigit, damals noch klein, brachte eine andere Zeitlichkeit in den Alltag: eine Gegenwart, die sich jeder Theoriebildung entzog und sie zugleich notwendig machte. Es war dieses Zusammenspiel von Nähe und Abstand, von Intimität und Reflexion, das Positano zu einem Resonanzraum werden ließ.

In diesem von Zitronenduft, Meeresrauschen und Zikadengesang durchdrungenen Ort entstand ein Raum, dessen theoretische Qualität gerade in seiner Nichtakademizität lag. Es war nicht die strenge Ruhe der Bibliothek, sondern die vibrierende Ruhe eines Ortes, der Denken nicht nur erlaubte, sondern notwendig machte. Der Alltag war durchlässig für Reflexion, das Gelebte wurde zum Rohmaterial für Begriffsarbeit, und umgekehrt gewann die Theorie jene Körperlichkeit zurück, die sie in Seminarräumen so oft verliert.

Das Haus, von Karli in einer Mischung aus asketischer Einfachheit und mediterraner Großzügigkeit gestaltet, wurde zu einem Knotenpunkt: ein Ort, an dem sich Künstler und Denker begegneten, ohne einander zu vereinnahmen. Karli selbst, zurückhaltend und fast alterslos wirkend, war mehr Zeuge als Teilnehmer der Gespräche – doch ein Zeuge, der mit seinem bloßen Dasein die Gespräche veränderte. Seine Malerei, eine stille Form des Widerstands gegen das Rasche, Modische, war Meditation über Sichtbarkeit und Zeit. In seinen Bildern – durchscheinende Farben, poröse Flächen, Figurationen, die sich dem Zugriff entziehen – spiegelte sich jene Haltung, die auch Alfreds Denken prägen sollte: Skepsis gegenüber jeder Eindeutigkeit, Sensibilität für Übergänge.

Für Alfred wurde dieses Haus zu einem Schwellenraum im doppelten Sinne: räumlich zwischen den massiven Höhen der Lattari-Berge und der flimmernden Unendlichkeit des Tyrrhenischen Meeres gelegen, geistig zwischen der Last der Vergangenheit (deutscher Philosophie, preußischem Erbe, Klassik) und einer noch nicht geformten Zukunft, in der Denken radikal neu gedacht werden musste. Hier formulierte er erste Gedanken zu jener Erkenntnis, die später seine gesamte Philosophie durchziehen sollte: dass das Transzendentalsubjekt, jene scheinbar voraussetzungslose Instanz bei Kant, nicht in der Innerlichkeit des Bewusstseins, sondern in der objektiven Praxis des Warentauschs zu suchen sei. Eine These, geboren aus der Erfahrung – und aus der Distanz zur Erfahrung.

Denn die Abgeschiedenheit von Positano war nie vollkommen. Die Wege hinunter ins Dorf, die Schiffe nach Neapel, die Briefe von Freunden und die Lektüren aus Deutschland hielten Alfred im Spannungsverhältnis von Rückzug und Weltbezug. Diese Spannung wurde zum Grundakkord seines Denkens: ein Denken, das nicht in der Einsamkeit verdunstet, sondern in der Distanz schärfer sieht. Positano war in diesem Sinn nicht nur geographischer Ort, sondern ein Denkmodell – eine Figur des Denkens selbst, das sich weigert, zwischen Kontemplation und Engagement zu wählen.

Neapel als Forschungsfeld: Die Streifzüge von 1926

Die Abgeschiedenheit Positanos wäre unfruchtbar geblieben, wäre sie nicht immer wieder durch jene Konkretion des Lebens durchkreuzt worden, die sich in Neapel mit einer Intensität verdichtete, wie sie dem Norden längst abhandengekommen war. Von seinem Rückzugsort, wo Denken und Leben ineinander zu fließen begannen, unternahm Alfred Sohn-Rethel regelmäßig Fahrten in die nahegelegene Metropole. Nicht aus bloßer Neugier oder Eskapismus, sondern aus der Notwendigkeit heraus, die Theorie an der Bewegung der Wirklichkeit zu messen. Was zunächst als Entlastung vom philosophischen Arbeiten gedacht war, wurde im Sommer 1926 zu einer Folge von Exkursionen, die man als teilnehmende Beobachtung im Benjamin’schen Sinne begreifen könnte: als Streifzüge durch eine Stadt, die sich dem Begriff entzieht, aber nicht dem Denken.

Neapel offenbarte sich ihm als Topographie des Übergangs: kein Organismus, sondern ein Aggregat – ein Ort, an dem Geschichte sedimentiert war, nicht abgeschlossen. Die Stadt trat ihm entgegen wie ein Palimpsest, in dem das Feudale, Kapitalistische, Archaische und Moderne nicht einfach nebeneinander bestanden, sondern sich in widersprüchlicher Bewegung durchdrangen. Das Sichtbare war hier nie eindeutig: Häuserfassaden bröckelten, aber nicht in Ruinösität, sondern in lebendiger Verwendung. Zwischen den Rissen der Stadt blitzten, im Sinne Benjamins, die Allegorien einer noch nicht vollends verwalteten Welt.

Sohn-Rethel bewegte sich durch das Gewirr der Quartieri Spagnoli und der engen Gassen der Altstadt wie ein Leser durch ein Buch, dessen Sprache er gerade erst zu entziffern begann. In der anarchischen Lebendigkeit der Scugnizzi – jener halbverwahrlosten, halbheroischen Straßenkinder, die zwischen Spiel, Geschäft und Widerstand oszillierten – erkannte er Formen des Sozialen, die sich dem Zugriff des Kapitals noch entzogen. Sie verkörperten, so schien es, ein Wissen ohne Bewusstsein, ein Leben im Modus der Improvisation, das ihn an jene Vorformen erinnerte, aus denen einst die Warenform hervorgegangen sein musste. „Der Austausch selbst ist das erste abstrakte Verhältnis der Menschen untereinander,“ schrieb er später, „und als solcher die reale Basis jener Abstraktion, die in der Erkenntnisform erscheint.“

In Neapel fand er eben diese Vorstufen des Abstrakten noch im Werden begriffen: die Marktstände, das Feilschen, die Halbmonetarisierung von Beziehungen, die Gleichzeitigkeit von Gabe und Tausch – sie machten die Stadt zu einem Ort, an dem das Verhältnis von Ware und Subjekt nicht fixiert, sondern prekär, tastend, dialektisch war. Neapel wurde damit zu einem Laboratorium, nicht im Sinne wissenschaftlicher Kontrolle, sondern im Sinne einer offenen Versuchsanordnung des Sozialen.

Seine Aufzeichnungen – etwa über eine Verkehrsstockung in der Via Chiaia, die er als Stillstellung des Verkehrsflusses und damit als Unterbrechung kapitalistischer Zeitlichkeit las, oder über die Bewegungsmuster der Scugnizzi, deren scheinbar sinnloses Umherschweifen einen verborgenen sozialen Rhythmus verriet – offenbaren eine doppelte Perspektive: den analytischen Blick des Entwurzelten, der erkennt, wo andere sich eingerichtet haben, und zugleich den melancholischen Blick desjenigen, der sich von der Aura des Fremden hat affizieren lassen.

Sohn-Rethel war kein Ethnograph im klassischen Sinn – eher ein Übergangswesen, ein Beobachter zwischen den Formen, der sich dem Zwang zur Identifikation entzog, aber auch der Versuchung widerstand, das Gesehene sogleich in begriffliche Form zu pressen. Die Theorie, die er in Positano zu skizzieren begonnen hatte – jene kühne Umkehrung der kantischen Transzendentalphilosophie vom Denken hin zur gesellschaftlichen Praxis des Warentauschs – wurde in den neapolitanischen Straßen, Märkten und Ritualen mit einem Material konfrontiert, das ihre Tragfähigkeit auf die Probe stellte.

Neapel war für ihn ein Ort der Erscheinung, nicht der Vollendung. Was in Deutschland längst zur „zweiten Natur“ geronnen war – das automatisierte Bewusstsein der Tauschgesellschaft – erschien hier noch in seinem Werden: tastend, widersprüchlich, offen. In dieser Unabgeschlossenheit, im Vorläufigen, im Nichtidentischen der Formen, entfaltete sich für Sohn-Rethel jene produktive Spannung, die Theorie nicht zur Weltflucht, sondern zum Mittel der Durchdringung werden ließ.

Diese Erfahrung war kein bloßes Vorspiel, sondern ein Erfahrungsreservoir, das Jahrzehnte später – im Rückblick wie durch eine gebrochene Linse – in seinem Hauptwerk Geistige und körperliche Arbeit zu einer systematischen Theorie der gesellschaftlichen Erkenntnisform verdichtet wurde. Die These, dass der Ursprung des Denkens in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Hand und Kopf liege, dass also das Subjekt der Erkenntnis nicht jenseits, sondern innerhalb der Geschichte und ihrer Produktionsformen zu verorten sei, ist in Neapel geerdet – dort, wo Arbeit nicht entkörpert, Wissen nicht formalisiert und das Leben nicht vollständig auf Warenform reduziert war.

Neapel wurde so – rückblickend – zur Chiffre eines anderen Denkens: nicht als Ideal, sondern als Schwelle. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass Sohn-Rethel in späteren Jahren immer wieder auf jene „südliche Zeit“ verwies – nicht nostalgisch, sondern kritisch erinnernd, als auf einen Ort, an dem Theorie noch den Geruch von Gassen, den Lärm von Märkten und das Zögern des Blicks kannte.

Die Porosität als zentrale Denkfigur

Die Porosität des Tuffsteins, jene geologische Eigenart, die Walter Benjamin und Asja Lacis in ihrem berühmten Neapel-Essay als urbane Lebensform beschrieben hatten, wurde für Alfred Sohn-Rethel zu weit mehr als einer sinnlichen Impression oder soziologischen Metapher. Langsam einsickernd wie das Wasser in den Stein, entwickelte sie sich zu einer Denkfigur von grundlegender Bedeutung, ja zur allegorischen Urszene seiner späteren Philosophie: ein Modell für die Durchlässigkeit zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Körper und Geist, zwischen gesellschaftlicher Praxis und theoretischer Reflexion.

Vom Castell Sant’Elmo, jener bastionären Warte über der Stadt, blickte er hinab auf eine Topographie, die von Eindeutigkeiten nichts wusste. Die Stadt, durchzogen von Höhlungen, Nischen, Treppen und improvisierten Durchgängen, war nicht nach Maß und Plan gebaut, sondern gewachsen aus Notwendigkeit, Klima und sozialem Leben. Die Mauern selbst atmeten – sie waren nicht Grenze, sondern Membran, nicht Trennung, sondern Übergang. Der poröse Stein ließ Licht, Wind, Gerüche, Geräusche und Menschenströme durch sich hindurch, ohne sich daran aufzulösen. Er war das Gegenteil des glatten Marmors nördlicher Rationalität.

Diese bauliche Offenheit war für Sohn-Rethel mehr als ein ästhetisches Phänomen. Sie wurde zum Sinnbild einer anderen Rationalität, einer, in der das Denken nicht abgeschlossen, sondern offen ist – durchlässig für das, was es zunächst als sein Außen begreift: die Welt der Arbeit, der Körper, der gesellschaftlichen Bewegung. Hier sah er die erste Anschauung jener Philosophie, die er Jahre später mit Begriffen wie reale Abstraktion, gesellschaftliche Vermittlung und produziertes Bewusstsein fassen sollte.

Neapel erschien ihm als Laboratorium einer anderen Moderne – einer, die noch nicht in der Abstraktion ihrer eigenen Prinzipien erstarrt war. Die Stadt war kein Ensemble klarer Funktionen, sondern ein gelebtes Kontinuum, in dem Wohnraum, Werkstatt, Straße und Spielplatz sich durchdrangen. Hier verschwammen die Grenzen zwischen Arbeit und Muße, zwischen öffentlichem Raum und privatem Rückzug, zwischen Denken und Körperlichkeit. In dieser Durchlässigkeit erkannte Sohn-Rethel jene soziale Materialität des Bewusstseins, die der Idealismus konsequent ausgeblendet und der Materialismus unterschätzt hatte.

Porosität – das war für ihn nicht das Gegenteil von Form, sondern die Möglichkeit von Form in der Zeit. Keine feste Struktur, sondern eine Figur des Übergangs. Keine starre Architektur des Gedankens, sondern eine Zone, in der das Denken sich mit dem Leben berührt, ohne sich je ganz in ihm aufzulösen.

Dass auch das Bewusstsein nicht als glatte Fläche, sondern als geologisch geschichtete, historisch sedimentierte Formation zu denken sei – durchzogen von Poren, Einschlüssen, Störungen – war eine Einsicht, die sich hier in der Beobachtung des Materiellen verdichtete. Die Porosität wurde so zur Chiffre für jene Zwischenräume, in denen das Denken sich nicht gegen das Andere abschottet, sondern es aufnimmt, reflektiert, in sich umformt. Kein reines, unberührtes Denken – sondern ein Denken, das sich der Spuren seiner Herkunft nicht schämt.

Und so war es vielleicht kein Zufall, dass der Gedanke der realen Abstraktion – jenes zentrale Motiv seines späteren Werkes, das zeigen sollte, wie abstrakte Denkformen aus konkreten gesellschaftlichen Praxen hervorgehen – nicht in der Abgeschiedenheit Positanos, sondern in der porösen Struktur Neapels seine konkrete Anschauung fand. Hier, wo der Wechsel von Licht und Schatten die Wände lebendig machte, wo Sprache, Gesten und Geräusche sich in die porösen Wände einzuschreiben schienen, wurde Theorie nicht losgelöst von der Welt erdacht, sondern aus ihrer Bewegung geboren.

Sohn-Rethels Denken blieb von dieser Erfahrung grundlegend gezeichnet. Noch die spätesten Passagen seiner Philosophie – etwa zur Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit – lassen die Spur dieser Topographie erkennen: eine Philosophie, die nicht aus der Trennung lebt, sondern aus der Vermittlung, nicht aus der Abstraktion von der Welt, sondern aus dem Durchgang durch sie hindurch. Porosität: das war die Vorstellung eines Denkens, das nicht vom Einzelnen ausgeht, sondern von der Relation, das nicht bei sich selbst beginnt, sondern inmitten einer Welt, die stets mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ein Denken, das sich öffnen kann – wie der Stein, aus dem die Stadt gebaut ist.

Methodische Innovationen: Zwischen Beobachtung und Reflexion

Die Jahre in Süditalien hinterließen in Sohn-Rethels Denken Spuren, die tiefer gingen als ihre geographische Verortung. Sie prägten nicht nur die Inhalte seiner späteren Theorie, sondern modellierten auch jene Methodik, die sein Werk bis zuletzt tragen sollte – eine Form der Erkenntnis, die sich nicht in Begriffsarchitekturen erschöpfte, sondern aus der Bewegung zwischen Welt und Begriff, Erfahrung und Reflexion hervorging.

Fernab der akademischen Disziplinen, nicht am Katheder lehrend, sondern auf den Gassen Neapels wandernd, entwickelte Sohn-Rethel eine Vorgehensweise, die sich der Schärfe der Theorie ebenso verpflichtet fühlte wie der Unmittelbarkeit der Anschauung. Was er sah, notierte er nicht bloß; er durchdrang es, indem er sich selbst darin verortete. Diese teilnehmende Beobachtung – niemals ethnografisch neutral, niemals soziologisch distanziert – war ein Dazwischen-Sein: zwischen Intellektualität und Körperlichkeit, zwischen Rückzug und Weltbegegnung, zwischen Neugier und Geduld. Nicht Objektivität, sondern Vermittlung wurde zum Leitmotiv seines Denkens – ein Denken, das sich nicht über die Dinge erhebt, sondern sich in ihnen aufhebt.

Diese methodische Haltung war nicht zuletzt eine Antwort auf äußere Umstände. Als Intellektueller ohne institutionelle Heimat, losgelöst von den vertrauten Apparaten der Universität, war Sohn-Rethel auf seine Sinne verwiesen – auf den Blick, das Hören, das Gehen, das Verweilen. Was als Mangel erscheinen mochte, wurde zum methodischen Privileg: eine Theorie, die sich nicht in der Abstraktion erschöpft, sondern sich durch die Welt hindurch formt.

Sohn-Rethel lernte, aus dem Konkreten das Allgemeine zu destillieren, ohne dabei das Besondere zu entwerten. Das Lachen der Scugnizzi, die Geräuschkulisse der Via Toledo, das Flirren des Lichts über dem Golf – diese scheinbar ephemeren Erscheinungen verwandelten sich unter seinem Blick in Schwellen, durch die hindurch sich gesellschaftliche Strukturen sichtbar machten. Es war eine Philosophie mit sensorischer Tiefe, deren Begriffe ihre Herkunft aus dem Leben nie verleugneten.

Diese Methodik war mehr Haltung als Technik – die Haltung dessen, der nicht herrscht über das, was er denkt, sondern sich tastend, fragend, lauschend nähert. Sie erinnerte an den Flaneur, wie Benjamin ihn beschrieben hatte – nicht als Sammler von Fakten, sondern als Wanderer durch Bedeutungen. So wurde Sohn-Rethel zum Flaneur der Begriffe, der die Theorie nicht auf den Höhen der Systeme verortete, sondern im Alltag einer Stadt, die selbst ein fließender Begriff war.

In bewusster Abkehr von der Tradition des geschlossenen Systems entwarf er eine Philosophie der Offenheit: kein Bau, sondern ein Geflecht; keine Festung, sondern ein Pfad. Seine Begriffe blieben durchlässig für die Widersprüche der Welt – porös, nicht aus Beliebigkeit, sondern aus Einsicht. Denn das Wirkliche war für ihn nicht glatt, nicht lückenlos – es war durchwirkt von Brüchen, Zwischenräumen, Übergängen. Die Porosität – so wurde ihm deutlich – war nicht nur Gegenstand seiner Beobachtung, sondern Methode seiner Erkenntnis: ein Denken, das nicht auf Dichte zielt, sondern auf Durchgang, das nicht stabilisiert, sondern in Bewegung hält.

In dieser Haltung verbindet sich die Methode mit Ethos: eine Theorie, die sich selbst nicht naturalisiert, sondern sich ihrer eigenen Bedingtheit bewusst bleibt. Sie ist weder bloß empirisch noch bloß spekulativ, sondern lebt im Wechselspiel von Nähe und Distanz, von Präsenz und Abstraktion – jenes schwebende Verfahren, das die Wirklichkeit nicht überformt, sondern sich von ihr durchdringen lässt.

So wurde Neapel – mit seinen provisorischen Schwellen, seinem urbanen Atem, seinem sozialen Körper – zur eigentlichen Schule seiner Philosophie. Und was dort an methodischer Sensibilität entstand, blieb in seinem Werk als leise, aber konstante Grundstimmung erhalten: ein Denken, das sich nicht isoliert, sondern vermittelt – in der Welt, durch die Welt, für eine Welt, die noch zu denken ist.

Die Weimarer Kulturlinke am Golf von Neapel

Alfred Sohn-Rethel war Teil einer größeren Bewegung, die retrospektiv als Weimarer Kulturlinke bezeichnet werden kann. Diese Gruppierung bildete zwar keinen formellen Verein, doch intellektuelle Affinitäten und persönliche Freundschaften hielten sie zusammen. Mitte der 1920er-Jahre wurde der Golf von Neapel zu einem Anziehungspunkt für jene deutsche Intelligenz, die sich weder mit der Republik von Weimar noch mit deren Gegnern identifizieren konnte.

Die Gründe für diese Südsehnsucht waren vielfältig: Für manche war die Gegend ein sonnenbeschienener Sehnsuchtsort und ein Gegenentwurf zur kälteren nordischen Zivilisation, deren Rationalität zusehends in Irrationalität umschlug. Andere kamen aus pragmatischen Gründen, da sie in Italien finanziell besser über die Runden kamen als im inflationsgeschüttelten Deutschland. Für einige wurde das Reisen selbst zur Lebensform – eine Art, durch das Er-Fahren von Ländern und Kulturen jene Erfahrungen zu sammeln, die das heimische Leben nicht mehr zu bieten schien. Persönlichkeiten wie Ernst Bloch, der Berufsreisende aus Neigung, Walter Benjamin und Bertolt Brecht fanden sich hier ein. Benjamin lernte über Brecht die lettische bolschewistische Schauspielerin Asja Lacis kennen, die sein Leben für Jahre prägen sollte.

Im April 1924 setzte Benjamin, begleitet von Freunden, nach Capri über. Was als flüchtiger Aufenthalt gedacht war, verlängerte sich unter der stillen Wucht des Südlichts und der melancholischen Schönheit der Insel bis in den Oktober. In diesen Monaten, in denen die Zeit sich dehnte und das Meer in immer neuen Farben schimmerte, fand Benjamin die seltene Ruhe, die es ihm erlaubte, an seiner Habilitationsschrift über das deutsche Trauerspiel zu arbeiten – einem Werk, das selbst von der Schwere und dem Schatten der Geschichte durchzogen ist. Seine Tage verbrachte er häufig auf dem Balkon, das Auge auf die Stadt und das Meer gerichtet, als suche er im Wechselspiel von Licht und Ferne einen Ausgleich zu den inneren Abgründen, die ihn begleiteten.

Capri wurde in jenem Frühjahr und Sommer zu einem Magneten für Intellektuelle. Alfred Sohn-Rethel, dessen familiäre Verbindungen ihm Zugang zu den Villen der Insel verschafften, war ebenso anwesend wie Asja Lacis, Siegfried Kracauer und – später – der junge Adorno. Im Café „Zum Kater Hiddigeigei“ kreuzten sich ihre Wege, und es begannen Gespräche, die in der deutschen Geistesgeschichte fortwirken sollten. Inmitten der italienischen Landschaft, fernab der deutschen Gegenwart, entfaltete sich hier ein produktives Spannungsfeld zwischen Reflexion und Aufbruch, aber auch eine spezifische Form der Melancholie.

Doch es war nicht allein die Schönheit der Natur, die diesen Ort zu einem geistigen Nährboden werden ließ. Die Ruinen der Antike, die verwitterten Mauern und das allgegenwärtige Bewusstsein von Geschichte verliehen dem Aufenthalt eine Schwere, die sich mit der Leichtigkeit des südlichen Lichts verband. Die Intellektuellen waren sich der Fragilität ihrer Existenz bewusst; sie lebten im Schatten eines drohenden Umbruchs, der ihre Gespräche und Gedanken durchdrang. Im Süden suchten sie nicht nur Erholung, sondern auch einen Ort der Sammlung und des Nachdenkens, einen Raum, in dem die Krise der Zeit eine tiefere Dimension annehmen konnte.

Im Frühherbst 1925 bereiste der junge Theodor Wiesengrund (Adorno) mit seinem Mentor Siegfried Kracauer die Region – ein intellektuelles Paar in der Krise, das sich ebenso sehr mit sich selbst beschäftigen musste wie mit den landschaftlichen Eindrücken und den vielen Büchern, die zweifellos zum Reisegepäck gehörten. Diese besondere Konstellation begünstigte die Entstehung theoretischer Innovationen, die keiner der Beteiligten allein hätte entwickeln können.

Was sie verband, war mehr als nur die gemeinsame Abneigung gegen die deutschen Verhältnisse. Es war die Ahnung, dass die Krise der bürgerlichen Gesellschaft auch eine Krise ihrer theoretischen Erfassung bedeutete – dass innovative Denkansätze erforderlich waren, um einer Realität gerecht zu werden, die sich den herkömmlichen Kategorien entzog. Der Süden bot den Freiraum für solch geistige Neulandgewinnung, die im Norden bereits der Rationalisierung oder der Reaktion zum Opfer gefallen war.

So wurde Capri, Positano und der gesamte Golf von Neapel zum Laboratorium einer neuartigen Denkweise, in der sich tiefe Reflexion und Zukunftsaussicht, Erinnerung und Erwartung, Theorie und Erfahrung auf eigentümliche Weise verschränkten. Die Gespräche, getragen von einer Sehnsucht nach Tiefe und einem Bewusstsein für das Unwiederbringliche, fanden auf den Terrassen der Villen oder in schattigen Winkeln der Cafés statt. Hier, im Wechselspiel von südlicher Fülle und der Ahnung des Verlorenen, entstand jene vitale intellektuelle Unruhe, die die Landschaft der Weimarer Zeit so einzigartig macht.

Die spezifische Melancholie, die Benjamin auf Capri empfand, war nicht bloß Trauer, sondern eine Form der Aufmerksamkeit für das Fragmentarische, das Unabgeschlossene, das in jeder Erfahrung mitschwingt. Sie verlieh dem Denken eine Schärfe, die es ermöglichte, die Brüche und Risse der Zeit nicht zu glätten, sondern sie als Ausgangspunkt für neue Formen der Reflexion zu begreifen. Im Dialog mit Gleichgesinnten wurde diese Nuance der Melancholie zur Triebkraft eines Denkens, das sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengab, sondern im Fragment das Ganze suchte – und im Verlorenen die Möglichkeit eines Neubeginns.

Diese Topographie des Geistes, die sich im Süden Italiens zwischen Felsen, Meer und den windgeschwärzten Mauern entfaltete, war keine bloße Kulisse für intellektuelle Exkurse. Vielmehr wurde sie zum Brennpunkt einer kritischen Selbstverständigung, zur Bühne eines Denkens, das sich seiner Fragilität ebenso bewusst war wie seiner historischen Verantwortung. Die Landschaft trat nicht als bloßes Äußeres hinzu, sondern inkarnierte sich im Denken – als Form, als Rhythmus, als Materialisierung der inneren Bewegungen des Geistes.

Was diese Konstellation der Weimarer Kulturlinke am Golf von Neapel so einzigartig machte, war ihre Fähigkeit, das Exilhafte nicht nur als Verlust, sondern als Quelle neuer Erkenntnisse zu begreifen. Die Distanz zur Heimat, zu Institutionen, zur politischen Macht bot nicht nur Schutz, sondern auch jene Leere, in der innovative Denkstrukturen reifen konnten. Es war eine Zeit der Schwebe, in der sich das Denken von den Konventionen löste, aber noch nicht neue Bodenhaftung gefunden hatte – ein Denken im Übergang: tastend, fragmentarisch, melancholisch, aber gerade dadurch fruchtbar.

Benjamin suchte in seinen Prosaminiaturen von Capri in der Erfahrung der Landschaft nicht die Idylle, sondern die Allegorie. Der zerklüftete Fels, die Ruinen, das flüchtige Licht wurden für ihn zu Chiffren eines Geschichtsverständnisses, das sich gegen lineare Fortschrittsideologien wandte. Die Vergangenheit war hier nicht abgeschlossen, sondern sedimentiert – eingeschrieben in Stein, Gestein, Geräusch. Capri wurde zum Denkbild, zur Anschauung jener Dialektik von Natur und Geschichte, von Dauer und Vergänglichkeit, die sein ganzes Denken durchzieht.

Auch für Sohn-Rethel war der Süden kein bloßes Refugium, sondern eine praxeologische Matrix, in der sich die gesellschaftlichen Formen unter anderen Bedingungen zeigten: lockerer, durchlässiger, näher am Ursprung. In den Märkten Neapels, im lebendigen Durcheinander der Via Chiaia, im stillen Blick auf das Archaische der Insel Capri sah er jene Zwischenräume, in denen sich das Verhältnis von Arbeit und Bewusstsein, von materieller Praxis und theoretischer Abstraktion nicht in der Weise verhärtet hatte wie im industrialisierten Norden. Das Denken, das hier entstand, war nicht systematisch, sondern im besten Sinne porös – offen für Welt und Wirkung, für Ambivalenz und Unabgeschlossenheit.

Adorno, der damals noch „Wiesengrund“ hieß, notierte später, wie viel er in dieser Zeit „lernte, ohne es zu bemerken“ – ein Satz, der die Eigenart dieses geistigen Klimas fast aphoristisch auf den Punkt bringt. Nicht durch Schulung, sondern durch Nähe, durch Reibung, durch die reflektierende Wachheit einer vom Weltverlust gezeichneten Gegenwart lernten sie, anders zu denken. Die Gespräche in Cafés, das geteilte Lesen, das verstohlene Schweigen – sie bildeten einen Diskursraum, der sich keiner Institution verdankte, sondern allein dem Wunsch, der Gegenwart in ihrer Zerrissenheit eine andere Form abzuringen.

Dass diese Form nicht systematisch sein konnte, war keine Schwäche. Im Gegenteil: Die Stärke dieses Denkens lag in seiner Fähigkeit, das Fragmentarische, das Unfertige, das Bruchstückhafte zu bewahren – nicht als Defizit, sondern als Ausdruck einer Welt, die selbst nicht mehr ganz war. Capri, Positano, Neapel – sie wurden zu inspirierenden Landschaften der Theorie, nicht weil sie das Denken beruhigten, sondern weil sie es beunruhigten, entgrenzten, erweiterten.

So entstand dort – zwischen Zitronengärten und abblätternden Fassaden, zwischen Exil und Erwartung, zwischen Kriegsnachklang und Revolutionsahnung – ein anderer Typus des Intellektuellen. Kein Systemdenker im Stil des 19. Jahrhunderts, auch kein bloßer Kritiker im Stile der späteren Emigration. Sondern ein melancholischer Forscher des Alltäglichen, ein Wanderer zwischen Theorie und Leben, ein skeptischer Hoffnungsträger. Einer, der wusste, dass Theorie nicht außerhalb der Welt entsteht, sondern in ihren Rissen, in ihrer Brüchigkeit, in ihrer Unruhe.

Diese Weimarer Kulturlinke am Golf von Neapel war keine Schule, keine Bewegung im eigentlichen Sinn, aber vielleicht gerade deshalb so wirkmächtig. Sie war eine besondere Konstellation von Einzelnen, die das Denken im Gespräch, im Fragment, im Blick auf das Meer erprobten. Ihre Bedeutung liegt nicht in einem gemeinsamen Programm, sondern in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Krise der Zeit und ihren Möglichkeiten, mit Entwurzelung und neuer gedanklicher Verankerung. So bleibt diese Episode der Geistesgeschichte nicht bloß eine historische Fußnote, sondern ein Bild für die Möglichkeit des Denkens überhaupt: ein Denken, das sich dem Ernst der Gegenwart nicht entzieht, sondern ihn in ästhetisch-reflexiver Form aufnimmt – als tiefe Reflexion, als innere Wachheit, als unbeirrbare Hoffnung.

Das England-Exil und die Fortsetzung der Arbeit

Die Rückkehr nach Deutschland 1927 markierte das Ende jener produktiven Phase, die Sohn-Rethel später als die glücklichste seines Lebens bezeichnen sollte. Die politischen Entwicklungen, die schon damals ihre Schatten vorauswarfen, machten einen dauerhaften Aufenthalt im Reich unmöglich. 1936 verließ Sohn-Rethel Deutschland endgültig – zunächst ging er nach Luzern, dann nach Paris und schließlich nach London, wo er bis 1969 leben sollte.

Das englische Exil war geprägt von jener Ambivalenz, die allen Emigranten gemeinsam ist: der Trauer über das Verlorene und der Dankbarkeit für die Rettung, der Sehnsucht nach der Heimat und der Erkenntnis, dass diese Heimat nicht mehr existierte. 1945 ging Sohn-Rethel eine Ehe mit Joan Margeret Levi ein, aus der die Kinder Ann und Martin hervorgingen – ein Versuch, im Exil jene Normalität zu finden, die die Geschichte verweigert hatte.

Die Jahre der Emigration waren jedoch alles andere als geistig unfruchtbar. 1940 wurde Sohn-Rethel auf der Isle of Man im Internierungslager Douglas festgehalten – gemeinsam mit anderen deutschen und österreichischen Emigranten, die als sogenannte „enemy aliens“ registriert worden waren. Dort lebte er unter einfachsten Bedingungen in einer Art Eisenbahnersiedlung, zeitweise in einem kleinen Haus zusammen mit dem Künstler Kurt Schwitters. In dieser unwahrscheinlichen Nachbarschaft – einem marxistischen Philosophen und einem Dadaisten unter einem Dach – entstanden nicht nur Anekdoten, sondern auch produktive Spannungen: Das von Schwitters gemalte Porträt Sohn-Rethels zeugt noch heute von dieser seltsamen Koexistenz von Bruch und Kontinuität, von Flucht und Form. Zugleich verfasste Sohn-Rethel in dieser Zeit wirtschaftspolitische Analysen für einen Kreis um Winston Churchill – ein Indiz dafür, wie sehr das Exil auch zu einem Ort kritischer Gegenbeobachtung wurde, gerade angesichts der westlichen Appeasement-Politik.

Nach seiner Entlassung aus dem Lager begann ein langes Leben zwischen prekären Existenzen und theoretischer Arbeit. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, musste Sohn-Rethel in den Jahren nach seiner Emigration verschiedene Tätigkeiten übernehmen. Er arbeitete als Haus- und Sprachlehrer, unterrichtete Kinder wohlhabender Familien sowie an Sprachschulen, insbesondere in Deutsch und Französisch. Diese pragmatische Phase seiner Existenz war jedoch keine des geistigen Stillstands. Parallel zu seiner Erwerbsarbeit setzte er seine theoretischen Überlegungen fort und arbeitete unbeirrt an jenem Gedankengebäude, das später unter dem Begriff der „realen Abstraktion“ Berühmtheit erlangen sollte.

Eine zentrale intellektuelle Begegnung dieser Jahre war die mit dem Altphilologen und marxistischen Denker George Derwent Thomson. In langen Gesprächen entwickelte sich ein produktiver Austausch über antike Philosophie und moderne Ökonomie. Besonders die Interpretation des Seinsbegriffs bei Parmenides wurde zum Gegenstand kontroverser Debatten: Während Thomson in der parmenideischen Substanz das ideelle Echo des Warenwerts sah, verstand Sohn-Rethel das „ἐόν“ als erste philosophische Kategorie, die aus dem Münzgeld hervorging – eine durch die materielle Konstanz des Geldes bedingte Vorstellung von Identität und Abstraktion. Diese Überlegungen verbanden materialistische Gesellschaftsanalyse mit epistemologischer Tiefenschärfe und trugen maßgeblich zur theoretischen Präzisierung seiner Philosophie bei.

Mit der Zeit gelang es Sohn-Rethel, wieder Anschluss an die wissenschaftliche Welt zu finden: Er wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am renommierten National Institute of Economic and Social Research in London und war als Dozent und Gastdozent unter anderem an der University of Oxford sowie weiteren britischen Hochschulen tätig. In dieser Zeit widmete er sich verstärkt ökonomischen Analysen und der Reflexion gesellschaftlicher Umbrüche in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Austausch mit anderen Emigranten und Intellektuellen bildete dabei ein intellektuelles Netzwerk, das ihn in seinem Denken bestärkte und inspirierte.

Die langen Jahre in London waren somit alles andere als unfruchtbar. Hier reifte jene Theorie der „realen Abstraktion“ der Warenform, die ihre ersten Impulse in den italienischen Jahren erhalten hatte. Die Distanz zu Deutschland und die Nähe zu einer anderen kapitalistischen Gesellschaft schärften seinen Blick für jene Strukturen, die er in Neapel nur erahnt hatte. Was dort noch als süditalienische Besonderheit erschienen war, erkannte er nun als universelles Merkmal der Warengesellschaft. Die Porosität als Denkfigur, die Methode der teilnehmenden Beobachtung, die Sensibilität für das Ineinander von Altem und Neuem – all diese in Italien entwickelten Ansätze prägten seine weitere theoretische Arbeit. Das Exil wurde zum Labor für eine Theorie, die ihre regionalen Ursprünge überwand, ohne sie zu verleugnen. Die Melancholie des Südens blieb als Grundton erhalten – nicht als Nostalgie, sondern als kritische Erinnerung an Möglichkeiten, die der Norden preisgegeben hatte.

Rückkehr und Resonanz: Theorie, Lehre und ein spätes Leben

1972 kehrte Sohn-Rethel dauerhaft nach Deutschland zurück – nicht als Rückkehrer in die alte Heimat, sondern als intellektueller Wanderer, dessen Theorie inzwischen eine eigene Geschichte hatte. In den folgenden Jahren veröffentlichte er zentrale Arbeiten wie Geistige und körperliche Arbeit (1970) und Warenform und Denkform (1971), die ihn zu einer prägenden Figur der Kritischen Theorie in der Bundesrepublik machten.

Die späte akademische Anerkennung hatte ihren Ausgangspunkt in einer historischen Konjunktur: der 68er-Bewegung. In einer Zeit, in der die traditionelle Marx-Rezeption in der Krise war, fanden viele Studierende – darunter Hans-Jürgen Krahl und Oskar Negt – in Sohn-Rethels materialistischer Erkenntnistheorie eine theoretische Brücke zwischen ökonomischer Analyse und Ideologiekritik. Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld begegnete Sohn-Rethel erstmals 1969 am Rande von Adornos Begräbnis. Auf seine Anregung hin entstand das später so einflussreiche Opus Magnum Geistige und körperliche Arbeit – ein Werk, das Jahrzehnte theoretischer Arbeit bündelte und den bis dahin weitgehend unbekannten Emigranten schlagartig in linken Hochschulkreisen bekannt machte.

Von 1972 bis 1976 hatte Sohn-Rethel eine Gastprofessur am mathematischen Fachbereich der neu gegründeten Universität Bremen inne. 1978 folgte eine ordentliche Professur, die er bis Mitte der 1980er Jahre bekleidete. Bremen – jene norddeutsche Hansestadt, die selbst zwischen den Welten liegt, zwischen Binnenland und Meer, zwischen Tradition und Moderne – erwies sich als der richtige Ort für seine Rückkehr. Die Reformuniversität bot jenen Freiraum für unkonventionelle Ansätze, den traditionelle Institutionen selten gewährten. Hier konnte er seine über Jahrzehnte gereifte Theorie in einen institutionellen Rahmen überführen, ohne seinen kritischen Impetus einzubüßen.

Sein Subsumtionstheorem wirkte in den 1970er und 80er Jahren weit über den akademischen Rahmen hinaus – insbesondere auf die industriesoziologische Forschung am Frankfurter Institut für Sozialforschung und am ISF München. Sohn-Rethels Überlegungen zur ideellen Durchdringung der Arbeitsprozesse durch kapitalistische Verwertungslogik bildeten eine wichtige Grundlage für eine materialistische Industriesoziologie, die sich vom dogmatischen Marxismus ebenso distanzierte wie von bloß empirischer Arbeitsforschung.

Auch persönlich eröffnete diese Lebensphase neue Wege: 1984 heiratete Sohn-Rethel die Buchhändlerin und Verlegerin Bettina Wassmann. Diese späte Verbindung – eine Partnerschaft zwischen Generationen – war geprägt von intellektuellem Austausch und publizistischer Energie. Wassmanns Nähe zur linken Kulturszene der Bundesrepublik trug entscheidend dazu bei, dass Sohn-Rethels Werk auch verlegerisch neu erschlossen wurde. Gemeinsame Projekte wie Jubiläumsbände und Neuauflagen verliehen seinem Denken eine Sichtbarkeit, die es zuvor nie gehabt hatte.

Die gesundheitlichen Einschränkungen, vor allem seine nachlassende Sehkraft, bestimmten zunehmend den Arbeitsrhythmus. Doch Sohn-Rethel nutzte jede Stunde, die ihm blieb, und arbeitete mit Detlev Claussen an einer Neufassung seiner frühen Faschismusanalyse – ein Versuch, vergangene Diagnose mit gegenwärtiger Erfahrung zu verbinden.

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass die theoretischen Grundlagen, die in den 1920er Jahren unter süditalienischer Sonne entstanden waren, erst in den 1970er Jahren in Deutschland jene Resonanz erfuhren, die ihnen lange versagt geblieben war. Die Studierenden, die seine Vorlesungen in Bremen besuchten, ahnten kaum, dass die Theorie, die sie begeisterte, ihre Wurzeln in jener mediterranen Melancholie hatte, die seinem Denken zeitlebens anhaftete.

Das literarische Erbe: „Das Ideal des Kaputten“

Sohn-Rethels Essays über seine Zeit in Italien, die unter dem bezeichnenden Titel „Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik“ erschienen, dokumentieren nicht nur die biografische Dimension seiner süditalienischen Jahre, sondern auch deren theoretische Bedeutung. Diese Texte, die zwischen Reisebericht und philosophischem Traktat changieren, zeigen exemplarisch, wie sich in seinem Denken theoretische Erkenntnis und ästhetische Wahrnehmung verbanden.

Der Titel selbst ist programmatisch: „Das Ideal des Kaputten“ meint nicht die Verherrlichung des Verfalls, sondern die Erkenntnis, dass gerade in dem, was der Modernisierung widersteht oder von ihr übriggelassen wird, Wahrheitsmomente aufscheinen, die der triumphierenden Rationalität entgehen. Die neapolitanische „Technik“ – ein bei Sohn-Rethel weit mehr als bloße Zweckrationalität umfassender Begriff – offenbart sich als eine Form des Umgangs mit der Welt, die den Widerspruch nicht eliminiert, sondern produktiv macht.

Diese Essays sind nicht nur biografische Dokumente, sondern auch theoretische Texte im strengen Sinne. Sie illustrieren, wie die Entstehung seiner Warenformkritik aus der konkreten Anschauung heraus nachvollziehbar wird. Die doppelte Perspektive des Fremden und des fast schon Ansässigen, die seine Beobachtungen prägt, wird hier zur methodischen Reflexion erhoben. So wird das Schwellenwesen, als das sich Sohn-Rethel selbst erfahren hatte, zum erkenntnistheoretischen Prinzip seiner Schriften.

Die literarische Qualität dieser Texte – ihre Fähigkeit, theoretische Abstraktion und sinnliche Anschauung zu verbinden – verweist auf eine Dimension seines Denkens, die in den akademischen Schriften oft verborgen bleibt. Hier zeigt sich Sohn-Rethel als Erbe jener deutschen Romantik, die in der Kunst eine Form der Erkenntnis suchte, die der diskursiven Rationalität verschlossen ist. Zugleich aber bleibt er Materialist genug, um diese Erkenntnis nicht im Ästhetischen zu belassen, sondern in gesellschaftstheoretische Kategorien zu überführen.

Alfred Sohn-Rethels „italienischer Marx“

Alfred Sohn-Rethels süditalienische Jahre waren weit mehr als eine biografische Episode; sie markieren den Ursprung einer Denkweise, die ihre Abstraktionen nie ganz von der Erfahrung löste. Seine Zeit in der Spannung zwischen Rückzug und Engagement, Kontemplation und Beobachtung, Theorie und Lebenswelt war entscheidend. Hier entwickelte sich ein Denkansatz, der Widersprüche nicht überwand, sondern produktiv machte – nicht als bloße Dialektik, sondern als Konstellation im Benjamin’schen Sinn: ein Gefüge disparater Elemente, das nur in seiner kritischen Anordnung Erkenntnis ermöglicht.

Der Alltag Neapels war dabei nicht nur Kulisse, sondern Teil der theoretischen Struktur. Die hier entstehende Theorie war durchlässig für die Erfahrungen informeller ökonomischer Praktiken, architektonischer Heterogenität und sozialer Durchlässigkeit. Diese konkrete Lebenswelt schärfte seinen Blick für das Allgemeine im Besonderen. Das Konzept der Porosität, ursprünglich eine geologische Eigenschaft des Tuffsteins, entwickelte sich zur erkenntnistheoretischen Kategorie. Sohn-Rethel erkannte, dass auch das Bewusstsein eine poröse Struktur aufweist – durchlässig für gesellschaftliche Einflüsse, aber nicht nur deren passives Produkt. Diese Einsicht, die später als Theorie der „realen Abstraktion“ bekannt wurde, nahm ihre ersten Konturen in der Anschauung neapolitanischer Realität an.

Diese frühen Jahre sind untrennbar mit einer tiefen Melancholie verbunden. Sie war jedoch nicht Ausdruck von Resignation, sondern eine Form gesteigerter Aufmerksamkeit für das Bruchstückhafte und Unvollendete der Welt. Als „Schwellenwesen“ zwischen den Welten entwickelte er eine theoretische Sensibilität, die weder im deutschen Idealismus noch im orthodoxen Marxismus ihre Entsprechung fand. Seine Philosophie trägt die Spuren jener Jahre in sich – die Melancholie des Südens ebenso wie die Schärfe einer Analyse, die aus der Distanz ihre Präzision gewann. Diese Melancholie durchdringt sein gesamtes Werk und verleiht ihm eine tiefe Nachdenklichkeit, die über die reine Systematik hinausgeht und die existenzielle Dimension von Erkenntnis reflektiert.

Die süditalienischen Jahre zeigen exemplarisch die Produktivität der Begegnung zwischen kritischer Theorie und mediterraner Lebenswelt. Sohn-Rethels Beispiel verdeutlicht, dass theoretische Innovation oft dort entsteht, wo verschiedene kulturelle und gesellschaftliche Traditionen aufeinandertreffen – an jenen Schwellen, die den Ort des Übergangs selbst darstellen.

Seine in Positano und Neapel entwickelten Grundideen, später im englischen Exil ausgearbeitet und schließlich in Bremen vermittelt, verdeutlichen die internationale Dimension kritischer Theoriebildung im 20. Jahrhundert. Die lange Zeitspanne zwischen der Entstehung seiner Grundideen in den 1920er Jahren und ihrer Rezeption in Deutschland in den 1970er Jahren offenbart die verschlungenen Wege kritischer Theorie und ihre Abhängigkeit von unplanbaren historischen Konstellationen.

So wurde aus dem „Schwellenwesen“ Alfred Sohn-Rethel ein Theoretiker von bleibender Bedeutung. Sein „italienischer Marx“ – geprägt von der Porosität des Tuffsteins und der Melancholie des Übergangs – avancierte zu einem eigenständigen Baustein kritischer Gesellschaftstheorie. Er war nicht als Systematiker, sondern als Konstellationsdenker, dessen Werk ebenso sehr aus dem Fragment wie aus der Formkraft des Bruchs lebt.

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