Ernst Ludwig Kirchner auf Fehmarn

Zwischen Paradies und Abgrund

Stehe ich nachts am Strand von Fehmarn, wenn das Meer schwarz und bodenlos geworden ist und die Brandung in rhythmischen Schlägen gegen die Küste bricht, dann scheint mir die Landschaft nicht bloß Natur, sondern ein Bild von Wahrheit. Das Leuchtfeuer von Staberhuk hebt sich wie ein Maß gegen die Dunkelheit, und das Meer selbst scheint eine eigene Sprache zu sprechen. In solchen Momenten tritt Ernst Ludwig Kirchner gegenwärtig hervor: nicht als historische Figur, nicht als Name der Kunstgeschichte, sondern als jemand, der hier stand, der diese Nacht, diesen Wind, dieses Meer gekannt haben muss – und in ihnen seine Bilder fand.

Fehmarn, diese Insel zwischen Nord und Süd, Land und Meer, ist für mich seit Jahren ein Ort der Rückkehr. Im Frühling der Glanz der Rapsfelder, im Herbst das matte Grau des Himmels, im Winter die fast menschenleeren Strände – Landschaft hier ist nicht bloße Natur, sondern eine Erfahrung von Wahrheit, die mich zwingt, länger zu verweilen, als es ein touristischer Blick erlaubte. Und immer wieder tritt in dieser Erfahrung Ernst Ludwig Kirchner auf, als jemand, der in derselben Landschaft – vor über hundert Jahren – sein „Paradies“ fand, und zugleich das Wissen, dass ein solches Paradies nur im Augenblick besteht.

Zwischen 1908 und 1914 verbrachte Kirchner vier Sommer auf Fehmarn, insgesamt neun Monate, in denen er mehr als 120 Ölbilder und unzählige Zeichnungen schuf. Ein eruptives Schaffen, das sich aus der unmittelbaren Nähe zur Natur speiste. Die Akte am Strand, die Weite des Meeres, der Leuchtturm von Staberhuk – sie sind nicht bloß Motive, sondern Verdichtungen einer Lebensform. Man hat sie kunsthistorisch oft mit der Lebensreformbewegung oder der Freikörperkultur erklärt, und gewiss ist das nicht falsch. Doch in Wahrheit geht es um mehr: um den Versuch, im Medium der Kunst ein anderes Leben zu entwerfen, einen Augenblick der Einheit, den die Gesellschaft versagte.

Adorno hat betont, dass Kunst ihre Wahrheit nicht in der Affirmation findet, sondern in der Negativität: im Ausstellen des Bruchs, in der Spannung, die sich nicht auflöst. Genau das geschieht in Kirchners Fehmarn-Bildern. Sie zeigen den nackten Körper im Licht, die Sonne, das Meer, die Gesteinsformationen – und zugleich ist die Linie zackig, der Farbauftrag schroff, die Harmonie gebrochen. In den grellen Farben, in der Schärfe der Konturen bricht sich bereits das Wissen um die Unversöhntheit. Das Glück, das sie zeigen, ist gebrochenes Glück – und darin eben wahr. Denn „Paradies“ bleibt bei Kirchner nicht das Bild der Versöhnung, sondern die Darstellung ihres Verlusts im Augenblick ihrer Erfüllung.

Es ist kein friedliches Bild. Das Meer in der Nacht ist unruhig, unheimlich, von einer Tiefe, die sich jedem Zugriff entzieht. Und vielleicht war es gerade diese Ambivalenz, die Kirchners Schaffen auf der Insel prägte: die Nähe zur Natur als Versprechen von Freiheit – und zugleich ihre Gewalt, ihre Unausweichlichkeit. Kirchner war nie der idyllische Künstler. Seine Berliner Straßenszenen aus den Jahren vor dem Krieg zeigen das Gegenteil: das Getriebe der Großstadt, die Nervosität, die Vereinzelung, das Zerspringen des Subjekts im Rhythmus der Moderne. In ihnen herrscht keine Natur, sondern Asphalt, Lichtreklame, Hast, und der Körper wird nicht befreit, sondern zerlegt. Dass derselbe Künstler dann am Strand von Staberhuk den nackten Körper in die Sonne legt, ist kein Widerspruch, sondern Ausdruck der Spannung, die ihn zeriss. Er schwankte zwischen Faszination und Abscheu, zwischen Ekstase und Zusammenbruch – und seine Kunst war immer Versuch, diese Zerrissenheit zu bannen.

Im Flackern des Leuchtfeuers, im Rauschen des Windes, wird dieser Gedanke körperlich spürbar. Die Landschaft tritt mir entgegen, nicht als romantisches Bild, sondern als etwas, das mich ergreift, das mich erinnert. Benjamin hat diesen Modus des Erinnerns als „Aura“ beschrieben: jenes einmalige Erscheinen einer Ferne, so nah sie sein mag. Erinnerung ist nicht Rekonstruktion, sondern Eingedenken – die Gegenwart des Vergangenen im Jetzt. In der Erfahrung des Fehmarn’schen Winters fühle ich diese Aura, und sie ist untrennbar gebunden an Kirchners Bilder, die selbst Teil dieser Landschaft geworden sind.

Fehmarn war dabei eine Zwischenstation, eine Insel des Aufschubs. Doch die Geschichte kennt keinen dauerhaften Besitz. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs musste Kirchner die Insel abrupt verlassen. Das „Glück im Winkel friedlich schön“, von dem er schwärmte, erwies sich als Episode. Was blieb, war Erinnerung – und eine Kunst, die sich fortan der Zersplitterung, der Großstadt, der Vereinsamung zuwandte. Von da an trat das Scheitern offen hervor: in Krankheit, in Nervenzusammenbrüchen, in der wachsenden Distanz zur Gesellschaft. Der spätere Rückzug nach Davos, in die Höhen der Alpen, war keine Wiederkehr des Paradieses, sondern eine Flucht in die Einsamkeit. Die Stille der Berge bot ihm Schutz und Isolation zugleich. Fehmarn blieb das „Verlorene“, das Maß der Möglichkeit, die nicht wiederkehren konnte.

Und vielleicht liegt gerade darin die Wahrheit dieser Bilder: Sie zeigen weniger ein verlorenes Paradies als vielmehr die Kluft zwischen individueller Erfahrung und gesellschaftlicher Realität, zwischen Natur und Moderne. Was wir in ihnen sehen, ist ein Versprechen, das in der Wirklichkeit nicht eingelöst werden konnte. Adorno hätte gesagt: Kunst ist das, was im Bann der Realität dennoch vom Bann befreit. Kirchners Fehmarn-Bilder haben diese Aura der Landschaft eingeschrieben. Wer heute auf die Insel kommt, sieht nicht bloß Meer und Felder, sondern sieht sie durch Kirchners Augen: im Wissen um das Versprechen und sein Scheitern.

Das nächtliche Meer offenbart sich als das eigentliche Bild dieser Wahrheit. Es ist schwarz, unruhig, von beunruhigender Tiefe – und doch geordnet im wiederkehrenden Schlag der Wellen, im Puls des Leuchtturms. In dieser Dialektik von Chaos und Ordnung, von Erscheinen und Verschwinden, lebt Kirchner fort. Seine Bilder sind kein Abbild des Paradieses, sondern das, was Adorno die „Rettung im Untergang“ genannt hätte: sie bewahren die Möglichkeit, gerade indem sie zeigen, dass sie nicht einzulösen ist.

Und so ist Kirchners Gegenwart nicht bloß Erinnerung an eine glückliche Zeit, sondern an seine Zerrissenheit. Das Meer, das unablässig gegen die Küste schlägt, ist ein Bild für das, was ihn zeitlebens umtrieb: das Verlangen nach Einheit und das Wissen um ihre Unmöglichkeit. Seine Bilder sind in dieser Spannung aufgehoben – sie sind Versprechen und Scheitern zugleich. Und vielleicht ist das der Grund, warum Fehmarn selbst für den Betrachter von heute nicht idyllisch bleibt. Die Landschaft ist schön, gewiss, doch in ihrer Schönheit liegt eine Melancholie, ein Überschuss, der sich nicht genießen lässt. Kirchners Blick hat sie für immer geprägt, hat ihre Aura verändert.

So sitze ich heute, in meiner Ferienwohnung am Meer, unter einer Reproduktion von Kirchners Gut Staberhuk. Es ist nur ein Bild, und doch mehr: eine Verdichtung von Erinnerung, ein Stück jener Wahrheit, die sich in Landschaft und Kunst begegnet. Ich sehe nicht nur ein Werk aus dem Jahr 1913. Ich sehe die Gegenwart einer Erfahrung, die mich übersteigt – die Zerrissenheit eines Künstlers, der zwischen Großstadt und Natur, Moderne und Paradies, Freiheit und Zusammenbruch oszillierte. Vielleicht liegt darin die Lehre von Fehmarn – dass es kein Paradies gibt, außer in den Momenten, in denen wir begreifen, dass es keines geben kann. Vielleicht liegt gerade darin seine Wahrheit: dass er uns inmitten der Moderne das Bild eines Glücks hinterließ, das es nie ungebrochen gab – und das uns doch in jedem Augenblick am nächtlichen Meer begegnet.

Das Meer in der Nacht ist mehr als Natur: es ist das Gleichnis der Moderne. Kirchners Linien haben es gewusst – dass kein Paradies ungebrochen bleibt, dass jedes Glück den Riss in sich trägt, der es überhaupt erst sichtbar macht. Fehmarn war nicht Zuflucht, sondern Augenblick. Davos war nicht Erlösung, sondern Flucht. Die Bilder aber sind geblieben – wie Brandungsschläge, eingefroren auf Leinwand. Vielleicht ist das die Wahrheit der Kunst: sie hält fest, was nicht zu halten ist, und gibt im Untergang die Ahnung einer Welt, die nur darum nicht versinkt, weil sie nie ganz gewesen ist.

Nachtrag: Fehmarn, 25. September 2025

Das Leuchtfeuer von Staberhuk, das sich über Jahrzehnte wie ein Atemzug in die Dunkelheit hob, ist für immer erloschen. Die Küste, die ich in der Erinnerung trage, hat ihre feste Silbe verloren. Spätestens 2024, so heißt es, sei das Feuer abgeschaltet worden – kein Datum, kein exakter Tag, nur ein Verschwinden im Strom der Gegenwart. Nun steht der Turm als Denkmal, schweigend, wie aus der Zeit gefallen.

Die moderne Navigation braucht kein Licht mehr, und so ist das Meer dunkler geworden. Vielleicht ist gerade dies die eigentliche Melancholie: dass die Technik uns Orientierung gibt und uns doch das Symbol der Orientierung nimmt. Der Strahl, der Kirchners Augen wie die meinen einst durchs Dunkel führte, ist verstummt. Es bleibt nur noch der Rhythmus der Wellen, der keine Antwort gibt.

So tritt die Wahrheit der Moderne deutlicher hervor: Sie löscht das Zeichen, das nicht mehr nützlich ist, und überlässt uns ein Meer, das noch schwarzer, noch stummer wirkt. Das Paradies, von dem Kirchner zehrte, war immer gebrochen – nun aber ist auch sein Leuchtfeuer erloschen. Liegt darin die letzte Lektion der Kunst, dass auch die Bilder, die uns Orientierung waren, eines Tages verschwinden?

Was bleibt, ist Erinnerung – die Melancholie des Blicks, der weiß, dass er zu spät kommt. Die Wahrheit zeigt sich: Kein Licht brennt ewig, weder auf See noch in der Kunst. Gerade im Erlöschen offenbart sich deutlicher als je zuvor das Bild eines Glücks, das nur in der Erinnerung lebt.

54° 24′ 9″ N, 11° 18′ 39″ O

Kennung Ubr. Grp. 2 weiß und grün = (1) + 3 +(1) + 11 = 16 s

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