Der Dichter im Bann der Kunst
Kaum ein Dichter hat sich so sehr in die Nähe der bildenden Kunst gerückt wie Rainer Maria Rilke. Und kaum einer ist darüber so sehr in den Verdacht geraten, die Sprache selbst in eine Art musealen Raum verwandelt zu haben. Sein Pathos der Dinge, in den Neuen Gedichten zum Stein gehärtet, ist Ausdruck einer Hoffnung, die der Sprachlosigkeit des beginnenden Jahrhunderts eine letzte, auratische Gestalt abringen wollte. Was bei Rodin plastische Arbeit am Material war, bei Cézanne das unendliche Messen der Farben und Formen, verwandelte Rilke in das Versprechen, das Ding selbst könne für sich sprechen – als bedürfe es nur des Dichters, um in Sprache zu erscheinen.
Adorno hat in dieser Versteinerung der Sprache die Gefahr der Idolisierung erkannt: Das Ding, so poetisch es auch leuchtet, verschattet die gesellschaftliche Wahrheit, die in ihm zur Erscheinung kommen müsste. Die Dinggedichte sprechen nicht von den Bedingungen der Produktion, nicht von der Arbeit, die in den Objekten sedimentiert ist, sondern erheben sie in eine Sphäre ästhetischer Autonomie, die ihre materielle Verstrickung verleugnet. Der Dichter ersetzt die Realität durch ihre Verklärung; das Ding spricht – aber nicht über sich selbst, sondern über das Ideal des Dichters. Es wird zum stummen Träger einer Bedeutung, die ihm von außen zugeschrieben wird.
Und doch, jenseits der Kritik, bleibt ein melancholischer Rest: die Landschaft Worpswedes, die Freundschaft zu Paula Modersohn-Becker, das Requiem für eine Freundin. Hier berührt sich Rilkes Moderne mit einer anderen, leiseren, die noch im Trauerzug des Vergänglichen eine Spur von Widerstand aufbewahrte. Die norddeutschen Moore, ihre Weite und Stille, werden zum Gegenbild der urbanen Katastrophe – nicht als Idylle, sondern als Raum einer anderen Erfahrung, in der die Moderne sich noch nicht vollständig durchgesetzt hat. In Worpswede begegnet Rilke einer Gemeinschaft von Künstlern, die zwischen Tradition und Aufbruch schwanken, die in der Landschaft noch einen Halt suchen, der in Paris längst verloren ist.
Die Ausstellung „Rilke und die Kunst“ im Paula Modersohn-Becker Museum erinnert an diese Ambivalenz. Sie zeigt den Dichter im Geflecht seiner künstlerischen Bezüge – zu Rodin und Cézanne ebenso wie zur Worpsweder Gemeinschaft – und lässt sichtbar werden, wie sehr Rilkes Werk inmitten der ästhetischen Moderne oszilliert: zwischen Ding und Verlust, zwischen Verklärung und Entzug. Die Ausstellung selbst wird damit zu einem Versuch, die Pole sichtbar zu machen, zwischen denen Rilkes Dichtung sich bewegt – ohne sie aufzulösen, ohne sie zu harmonisieren.
Rilke und die bildende Kunst
Rilkes entscheidende Schule war nicht die Literatur, sondern die bildende Kunst. Seine Pariser Jahre, die Nähe zu Rodin und die Erschütterung vor Cézannes Malerei prägten ihn tiefer, als es das Studium irgendeines Dichters vermocht hätte. Er suchte nicht Worte für Gefühle, sondern für Formen; nicht Ausdruck des Inneren, sondern Gestalt des Äußeren. In dieser Wendung vom Subjekt zum Objekt liegt der entscheidende Impuls seiner mittleren Schaffensperiode.
Rodin lehrte ihn das Prinzip der Arbeit. In der unermüdlichen Wiederholung, im Einschreiben der Hand in den Stein, erkannte Rilke das Ethos einer Kunst, die nicht dem Subjekt, sondern dem Objekt verpflichtet ist. Rodin war für ihn nicht nur Bildhauer, sondern Handwerker im ursprünglichsten Sinne: einer, der sich dem Material unterwirft, um es zu durchdringen. Die Dinggedichte der Neuen Gedichte sind poetische Skulpturen: Sprache, die sich dem Ding anschmiegt, bis sie es gleichsam von innen her zum Sprechen bringt. „Der Panther“ im Jardin des Plantes ist dafür das beredteste Beispiel: nicht die Gefühlslage des Dichters, sondern der Blick aus dem Käfig, der im kreisenden Gang des Tieres zur Sprache findet. Der Rhythmus der Verse, die kreisenden Enjambements, ahmen die physische Bewegung des Panthers nach und versprachlichen die Form der Gefangenschaft. Das Gedicht zeigt nicht das Mitleid des Betrachters, sondern die Bewegung selbst, die sich im Rhythmus der Verse verdichtet.
Doch diese Verdichtung hat ihren Preis. Was bei Rodin noch die Spur der physischen Anstrengung trägt, wird bei Rilke zur reinen Form. Der Schweiß der Arbeit, die Widerspenstigkeit des Materials, die Zeit, die in den Stein eingeschrieben ist – all das verschwindet hinter der poetischen Geste. Das Gedicht gibt sich als unmittelbarer Ausdruck des Dinges, verschweigt aber die Vermittlung, die es erst möglich macht. Adorno würde hier von einer doppelten Verdrängung sprechen: Das Gedicht verdrängt sowohl die Arbeit des Dichters als auch die Geschichte des Objekts.
Cézanne wiederum eröffnete Rilke eine neue Poetik des Sehens. Die Farben, die Cézanne auf der Leinwand ins Gleichgewicht bringt, waren für Rilke nicht Abbild, sondern Erkenntnis. In seinen Briefen an Clara Rilke-Westhoff, geschrieben im Oktober 1907 nach dem Besuch der Cézanne-Retrospektive im Salon d’Automne, versucht er, das Prinzip dieser Malerei zu erfassen: das stetige Messen der Nuancen, die geduldige Durchdringung des Sichtbaren, bis der Gegenstand als Dauer erscheint. Cézanne lehrt ihn, dass das Sehen selbst eine Form der Arbeit ist – nicht das flüchtige Erfassen, sondern das wiederholte Schauen, das den Gegenstand in seiner Struktur begreift.
In der Sprache der Gedichte entspricht dem die Verfestigung des Flüchtigen: Das rasche Empfinden wird in die Dauer des poetischen Bildes verwandelt. Die Dinge werden zu „Dauer-Räumen“, wie Rilke selbst schreibt – Räume, in denen die Zeit stillsteht, in denen das Objekt sich selbst durchdringt und doch offen bleibt. Aber auch hier stellt sich die Frage: Ist diese Dauer eine Rettung des Dinges oder seine Mumifizierung? Bewahrt das Gedicht die Erfahrung oder ersetzt es sie durch ein Bild, das der Erfahrung nicht mehr standhält?
Worpswede schließlich bildet den Gegenpol zu Paris. In der Künstlerkolonie erlebte Rilke eine Gemeinschaft, die Landschaft und Kunst ineinander verschränkte. Die Maler Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende und Heinrich Vogeler suchten in der norddeutschen Tiefebene eine Ursprünglichkeit, die der urbanen Moderne entgegengesetzt war. Vogeler, dessen Barkenhoff als Inbegriff einer ästhetisch durchgestalteten Lebensform galt, repräsentierte die Utopie einer Verschmelzung von Kunst und Leben. Für Rilke wurde diese Landschaft zur Chiffre einer anderen Moderne – einer, die nicht die Beschleunigung, sondern die Verlangsamung suchte, nicht den Bruch, sondern die Kontinuität. Doch anders als Vogeler suchte Rilke die Erfüllung nicht in der sozialen Wirklichkeit, sondern in der Sprache.
Paula Modersohn-Becker wurde für ihn zur zentralen Figur: ihr früher Tod 1907, nur wenige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter, das Movens des Requiem für eine Freundin, das wie kein anderes Gedicht Rilkes zwischen Klage und Verklärung schwankt. In diesem Gedicht wird die Künstlerin zur Allegorie des Verlustes – nicht nur ihres eigenen Lebens, sondern einer ganzen Möglichkeit von Kunst. Paula Modersohn-Becker, die in Paris die Moderne gesucht und in Worpswede eine eigene Synthese versucht hatte, wird bei Rilke zur tragischen Figur einer unvollendeten Verwirklichung. Die norddeutsche Landschaft, das Melancholische ihrer Horizonte, das Schweigen ihrer Moore, hallt in Rilkes Dichtung wider – weniger als Naturbeschreibung denn als Chiffre für den Verlust.
So sehr Rilke in der bildenden Kunst seinen poetischen Ausgangspunkt fand, so sehr zeigt sich darin auch die Problematik, die Adorno benannte: Die Sprache wird zur Skulptur, das Gedicht zum Objekt, das die gesellschaftliche Geschichte des Dinges, seine Verstrickung in die Welt der Arbeit, zum Verstummen bringt. Was als Befreiung des Objekts gemeint war, droht in Verdinglichung zu kippen. Das Ding, das sprechen soll, wird zum stummen Idol, das nur noch die Projektion des Dichters zurückwirft.
Rilke und die französische Moderne
Wenn Paris für Rilke Schule war, dann nicht nur die der Skulptur und Malerei, sondern auch die der Sprache. Zuvor hatte er in Worpswede, in unmittelbarer Nähe zu Paula Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler, eine andere Schule erfahren: die eines Lebens, das ganz durch Kunst gestaltet sein sollte. Die französische Moderne, deren Stimmen in den Boulevards und Hinterhöfen widerhallten, stellte ihn vor ein Problem, dem er nicht auswich, das er aber in seiner Radikalität auch nicht übernahm. Baudelaire und Mallarmé sind die Namen dieser Konfrontation, die Rilkes eigene Poetik umstellt, aber zugleich ihre Grenze markiert.
Baudelaire – das war für Rilke die Erfahrung der Großstadt in ihrer Unerbittlichkeit. Die Tableaux parisiens, die im Getriebe der Metropole das Elend, die Zersetzung, die Schönheit des Hässlichen aufleuchten lassen, waren ihm Quelle für die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Der Malte-Roman, begonnen 1904 und vollendet 1910, ist Rilkes Versuch, die urbane Moderne zu erfassen – nicht als Triumph der Zivilisation, sondern als Erfahrung des Zerfalls. Der junge dänische Adelige Malte, der in Paris strandet, erlebt die Stadt als Ort des Schreckens: die Armut der Vorstädte, die Krankenhäuser, die anonyme Menge, in der das Subjekt sich verliert.
Der Malte-Roman kennt die Angst der Alleinstehenden in der Menge, das Verlorensein des Subjekts zwischen Palästen und Spitälern. Und doch: Rilke weicht dem Nihilismus aus, der Baudelaires Verse durchdringt. Er ästhetisiert, wo Baudelaire entstellt. Das Grauen, das der französische Dichter ans Licht zwingt, verwandelt Rilke in ein Gleichnis, das noch Schönheit sein will. Baudelaires „Une charogne“ – das verwesende Aas am Wegrand, das zur Allegorie der Schönheit wird – findet bei Rilke keine Entsprechung. Wo Baudelaire das Ekelerregende in den Mittelpunkt rückt, hält Rilke Distanz. Adorno hätte sagen können: das Entsetzliche, in Sprache gebannt, wird bei Rilke zur Statue, die den Schrecken mildert, anstatt ihn festzuhalten.
Mallarmé – das war die andere Versuchung, die Rilke spürte: die Sprache als Beschwörung des Abwesenden. Mallarmés Verse zielen nicht auf das Ding, sondern auf dessen Verschwinden; die Sprache selbst wird zum Schauplatz des Absoluten, das sich gerade in der Leere zeigt. In Gedichten wie „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui“ oder der rätselhaften Prosa von „Un coup de dés“ geht es nicht um die Darstellung von Welt, sondern um die Evokation dessen, was nicht darstellbar ist. Die Sprache löst sich von ihrem Referenten, wird reine Musik, reiner Klang.
Rilke teilt die Frage, wie Welt ins Gedicht übergeht, aber er antwortet anders: nicht durch die Auflösung ins Sprachliche, sondern durch die Dingwerdung der Sprache. Wo Mallarmé das Verschwinden des Bezeichneten feiert, sucht Rilke dessen Rückkehr in poetischer Verklärung. Das Gedicht soll nicht das Nichts beschwören, sondern das Ding zur Sprache bringen – auch wenn dieses Ding nur im Gedicht existiert, auch wenn es eine Konstruktion ist.
So ergibt sich eine eigentümliche Differenz:
- Baudelaire führt das Hässliche, den Schmutz der Moderne, in die Sphäre der Schönheit ein – Rilke weicht der Kompromisslosigkeit dieser Dialektik aus. Er kann das Grauen zeigen, aber nicht aushalten; er muss es verwandeln, um es erträglich zu machen.
- Mallarmé überantwortet die Welt der Sprache, die in ihrer Musikalität das Abwesende beschwört – Rilke insistiert auf der Sprache des Dings, als könne es sich noch selbst bekunden. Für ihn bleibt das Objekt die letzte Instanz, auch wenn es nur als sprachliches Konstrukt erscheint.
Beide Dichter, Baudelaire und Mallarmé, lassen die Moderne als Katastrophe erfahren, die nicht zu überwinden ist. Rilke dagegen, inmitten ihrer Bilder, sucht nach einer Rettung. Er steht, wie so oft, dazwischen: zu sehr verstrickt, um die Negativität zu ignorieren; zu sehr dem Ding verfallen, um sie radikal auszusprechen.
Damit wird sein Werk zur Schwellenliteratur. Es trägt die Zeichen der Moderne in sich, doch verwandelt sie in einen Ton, der auratisch sein will. Wo Baudelaire das Abgründige mit der Schönheit verschränkt, wo Mallarmé das Nichts poetisch erhebt, versucht Rilke, das Ding als Dauer zu gewinnen – und gerade darin wird er zum Dichter der Verfehlung wie der Verheißung.
Adornos Kritik und Benjamins Melancholie
Adorno hat in Rilke nicht den großen Modernen gesehen, sondern den Dichter der sublimen Regression. Seine Lektüre, gestützt auf die Diagnose der Kulturindustrie und der verfehlten Moderne, deutet Rilke als Rückzugsgestalt: einer, der im Angesicht der entfesselten Rationalität nicht den Sprung ins Negative wagt, sondern auf die Seite der Harmonie ausweicht. Das auratische Pathos der Duineser Elegien und Sonette an Orpheus gilt Adorno als Sublimierung des Verlustes, nicht als dessen Anerkenntnis.
Statt die Zerstörung der Erfahrung zu artikulieren, die in der modernen Welt allgegenwärtig ist, erhebt Rilke die Dinge in eine sprachliche Transzendenz, die sie dem wirklichen Untergang entreißt – und sie zugleich unbrauchbar macht. Die Duineser Elegien, entstanden zwischen 1912 und 1922, in den Jahren des Ersten Weltkriegs und der europäischen Katastrophe, schweigen über die Katastrophe. Sie sprechen von Engeln und von der Verwandlung, von der Überwindung des Todes im Gedicht – aber nicht von den Schützengräben, nicht von der industrialisierten Vernichtung, nicht von der Rationalisierung des Tötens.
Adornos Vorwurf ließe sich so paraphrasieren: Rilke feiert die Dingwelt in dem Moment, da sie unwiederbringlich zerfällt. Indem er sie im Gedicht verklärt, verrät er sie an eine Versöhnung, die es nicht gibt. Die Apotheose des Dings wird so zum Monument der Verweigerung – eine Ästhetik des Trostes, nicht der Kritik. Für Adorno ist dies mehr als ein ästhetisches Versagen; es ist eine ideologische Komplizenschaft. Die Dichtung, die das Grauen verschweigt, macht sich mitschuldig an dessen Fortsetzung.
Benjamin dagegen, Rilke fast zeitgleich lesend, war sensibler für die Ambivalenz. Für ihn war Rilkes Melancholie nicht bloß Flucht, sondern eine Form des Rettens im Modus des Untergangs. In seinen verstreuten Bemerkungen – Benjamin hat Rilke nie systematisch behandelt, aber immer wieder auf ihn Bezug genommen – klingt an, dass die Rilke’sche Dingpoesie als Allegorie des Verfalls verstanden werden kann: das Ding, das spricht, spricht nicht in eigener Stimme, sondern in der gebrochenen Artikulation der Trauer.
Während Adorno die auratische Geste als falsche Versöhnung verwirft, hört Benjamin in ihr das Echo einer anderen Zeit – das, was an Wahrheit gerade im Melancholischen aufscheint. Die Melancholie ist für Benjamin nicht Regression, sondern eine Form der Erkenntnis: Sie hält fest, was verloren geht, ohne es zu verleugnen. Sie bewahrt die Spur, auch wenn sie weiß, dass die Spur unvollständig ist. In Rilkes Dinggedichten erkennt Benjamin die Geste des Sammelns, die auch sein eigenes Passagen-Werk prägt: das Aufheben der Fragmente, die Rettung des Verschwindenden im Modus der Allegorie.
Diese Differenz ist nicht zufällig. Adorno misst die Literatur an ihrer Fähigkeit, das Negative zu denken, ohne es aufzuheben. Er fordert von ihr, die Katastrophe beim Namen zu nennen. Benjamin hingegen sucht die Funken im Trümmerhaufen, die Rettung im Fragment, die Wahrheit in der Allegorie des Untergangs. Für ihn ist Rilke nicht der naive Tröster, sondern der Dichter, der den Verlust ins Bild hebt – und ihn dadurch zumindest erinnerbar macht.
So entsteht eine doppelte Perspektive:
- Adorno sieht in Rilke den Traditionalisten, der im Gewand der Moderne alte Verheißungen wiederholt und damit deren Unwahrheit bekräftigt. Rilkes Dichtung ist für ihn regressiv, weil sie die Versöhnung behauptet, wo nur der Bruch bleibt.
- Benjamin erkennt in Rilke den Melancholiker, der im Ding die Spur des Verschwindens bewahrt – und so, wenn auch unvollkommen, eine Form von Wahrheit festhält. Rilkes Dichtung ist für ihn fragmentarisch, aber gerade darin liegt ihre Möglichkeit.
Vielleicht liegt gerade in dieser Spaltung die eigentliche Wahrheit der Rilke-Rezeption: dass er weder ganz modern noch ganz reaktionär ist, weder nur auratisch verklärt noch bloß melancholisch fragmentarisch. Er bleibt der Dichter an der Schwelle – und damit Projektionsfläche einer Moderne, die selbst zwischen Rettung und Untergang schwankt.
Rilke als Schwellenfigur der Moderne
Rilke bleibt ein Dichter der Grenze. Weder reiht er sich bruchlos in die französische Moderne ein, noch verfällt er der Tradition in naiver Wiederholung. Er tastet an einer Linie entlang, die ihn zu einem Zwischenwesen macht: zu modern, um im Idyllischen zu verharren, zu bewahrend, um die Zerstörung vorbehaltlos zu bejahen.
Gerade diese Schwellenstellung erklärt seine eigentümliche Wirkungsgeschichte. Für manche ist er der letzte Romantiker, der den Dingen ihre Stimme zurückgibt; für andere der Verklärer, der das Elend der Moderne mit auratischer Sprache übertüncht. Für die einen ist er der Dichter der Innerlichkeit, der im Rückzug aus der Welt noch eine letzte Wahrheit findet; für die anderen der Apologet einer falschen Versöhnung, die die Katastrophe verschleiert. Doch jenseits dieser Alternativen zeigt sich ein tieferer Ernst: Rilkes Sprache ringt darum, im Angesicht der Katastrophe einen Ort zu behaupten, an dem Erfahrung nicht völlig zerfällt.
Dass dieser Ort fragil, vielleicht illusorisch ist, macht seine Dichtung nicht unwahr, sondern verweist auf die Zerrissenheit der Epoche selbst. Die Moderne, wie sie Rilke erlebt, ist nicht die siegreiche Rationalisierung, nicht der klare Bruch mit der Vergangenheit, sondern ein Zustand permanenter Unentschiedenheit. Sie ist weder Fortschritt noch Verfall, sondern beides zugleich. Rilkes Dichtung hält diese Ambivalenz aus, ohne sie aufzulösen – und gerade darin liegt ihre Zeitgenossenschaft.
Die Moderne kennt keine Sicherheit des Sinns mehr, und doch sucht Rilke, ihn zu retten – in den Dingen, in der Sprache, im Bild des Engels. Die Duineser Elegien enden mit der Forderung: „Hiersein ist herrlich.“ Aber dieses Hiersein ist kein naiver Optimismus, sondern ein trotziges Beharren auf der Möglichkeit von Erfahrung, auch wenn diese Erfahrung brüchig geworden ist. Darin liegt die Spannung, die Rilke zugleich verdächtig und unverzichtbar macht. Verdächtig, weil seine Verse Trost spenden, wo Kritik gefordert wäre; unverzichtbar, weil sie im Modus des Trostes die Wunde offenhalten, die keine Kritik zu schließen vermag.
So ist Rilke weder bloß der „auratische“ Rückschritt, als den Adorno ihn sieht, noch der melancholische Retter allein, den Benjamin erahnt. Er ist beides – und gerade darum ein Dichter, an dem sich die Moderne selbst erkennt: nicht in der Reinheit des Fortschritts, sondern in der Ambivalenz des Übergangs. Seine Gedichte sind Schwellenräume, in denen das Alte noch nicht ganz verschwunden und das Neue noch nicht ganz angekommen ist.
Rilkes Dichtung bleibt damit ein Denkmal der Verfehlung wie der Möglichkeit: verfehlt, weil sie die Katastrophe nicht beim Namen nennt; möglich, weil sie in ihrer Melancholie die Erinnerung an Rettung bewahrt. Und vielleicht liegt hierin das Entscheidende: dass er uns zwingt, an der Schwelle auszuharren – im Wissen um die Unmöglichkeit der Versöhnung, und doch im Beharren auf ihre Notwendigkeit.
Die Ausstellung „Rilke und die Kunst“ im Paula Modersohn-Becker Museum macht diese Schwellenstellung sichtbar: Sie zeigt Rilke nicht als fertigen Dichter, sondern als einen, der sucht, der zwischen den Medien wandert, der in der Begegnung mit Rodin und Cézanne, mit Worpswede und Paris, mit dem Ding und seiner Auflösung eine eigene Sprache findet. Der Kontrast zu Heinrich Vogeler, der als Worpsweder Kollege später den Weg in den politischen Sozialismus einschlug, verdeutlicht dabei die Distanz zwischen Rilkes Ideal und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Rilkes Sprache ist keine Antwort, sondern eine Frage – ob Dichtung im Zeitalter der Katastrophe noch möglich ist, und wenn ja, wie. Er beantwortete sie mit einer poetischen Flucht in die Dauer der Dinge – eine Verfehlung, wie Adorno erkannte, und doch, wie Benjamin sah, die letzte Melancholie der Möglichkeit.

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