Vom Zweifel an der Moderne: Adorno und Lyotard

Vorspiel – Im Schatten des Gedachten

Es gibt Gedanken, die wie Schatten sind: Sie erlöschen nicht, wenn das Licht der Zeit sich ändert. Adorno gehört zu ihnen. Sein Denken bleibt als Nachhall im Bewusstsein der Moderne, selbst dort, wo sie sich von ihm lossagt. Vielleicht war jede Theorie nach ihm schon Kommentar, jeder Versuch, sich zu befreien, nur eine Variation seines Nein.

Doch auch die Negation altert. Sie wird müde, wie eine Stimme, die zu lange gegen den Wind gesprochen hat. Dann erscheint Lyotard – nicht als Überwinder, sondern als einer, der dem Schweigen lauscht, das Adorno hinterließ. Sein Denken beginnt dort, wo das Wort zögert. Er glaubt nicht mehr an die große Versöhnung, aber auch nicht an den großen Bruch. Er hört nur das Zittern zwischen beidem.

So liegt zwischen Adorno und Lyotard weniger ein Streit als eine Verschiebung der Empfindlichkeit. Was bei Adorno noch Aufschrei war, wird bei Lyotard Flüstern. Und vielleicht, in diesem Übergang, geschieht das Entscheidende: Das Denken lernt, das Unversöhnliche nicht mehr zu überwinden, sondern auszuhalten – nicht mehr das Ende der Geschichte zu verkünden, sondern ihr Echo zu hören.

Es ist, als läge über der Postmoderne noch immer der Schatten Adornos – ein Nachglanz der Vernunft, die sich weigert, in Versöhnung aufzugehen. Lyotard suchte die Befreiung vom Bann der Dialektik, jener alten Maschine des Denkens, die alles Leid in Begriffe verwandelt und alles Andere als Vermittlung missversteht. Doch diese vermeintliche Emanzipation ist Flucht – der Versuch, das Negative zu erlösen, indem man es der Sprache entzieht, statt es in ihr auszutragen.

Adorno hatte gewusst, dass kein Denken unschuldig ist. Auch das freie, das spielerische, trägt den Makel der Geschichte in sich. Für ihn war die Wahrheit ein Reflex des Leidens; für Lyotard eine Geste der Ehre gegenüber dem Unrepräsentierbaren. Beiden gemeinsam ist das Misstrauen gegen das System, das glaubt, den Sinn des Ganzen erfassen zu können. Aber wo Adorno in der Negativität den letzten Ort des Widerstands erkennt, feiert Lyotard den Widerstreit selbst – als unaufhebbare Vielheit, als Unverfügbarkeit des Sinns.

Vielleicht ist darin die leise Tragik des postmodernen Denkens: dass es das Leiden des Begriffs erkennt, aber seinen Schmerz nicht mehr aushält. Lyotard spricht von der Freude der Differenz, doch sie ist von Melancholie durchzogen. Der Abschied von der Dialektik ist kein Triumph, sondern ein Trauerakt – ein Versuch, das Denken zu retten, indem man es von der Hoffnung befreit.

So begegnen sich beide – Adorno und Lyotard – in einer paradoxen Intimität: der eine als letzter Hüter der negativen Vernunft, der andere als Chronist ihres Verstummens. Zwischen ihnen spannt sich das Feld unserer Gegenwart, in der Kritik sich selbst überlebt hat und Wahrheit nur noch als Widerstreit erscheint. Dem Denken bleibt heute nichts anderes, als in dieser Spannung zu verweilen – als Erinnerung an die Möglichkeit, die sich in ihrem Verlust zeigt.

Diese Auseinandersetzung ist keine bloß historische. Sie betrifft uns, die wir mit den Trümmern der Kritischen Theorie leben und zugleich nach einer Sprache suchen, die dem Leiden noch gerecht werden kann, ohne es zu vereinnahmen. Als einer, der früh mit Lyotards Werk in Berührung kam und doch Adornos Schüler blieb, versuche ich im Folgenden, diese Spannung auszumessen – nicht um sie aufzulösen, sondern um in ihr die Möglichkeit eines Denkens zu erkennen, das weder resigniert noch illusioniert.

I. Das Ende der Metaerzählungen und die Dialektik

Als Lyotard den „Unglauben gegenüber den Metaerzählungen“ proklamierte, war das mehr als eine kulturtheoretische Geste. Es war die Kapitulation einer Epoche, die an ihren eigenen Heilsversprechen zerbrochen war. Fortschritt, Emanzipation, Revolution – die großen Erzählungen der Moderne hatten ihre Überzeugungskraft verloren, weil ihre Realisierungen in Terror und Verwaltung endeten. Was als Befreiung gedacht war, schlug um in neue Formen der Herrschaft; was Vernunft versprach, endete in der Rationalisierung des Schreckens. Lyotard wollte aus dieser Müdigkeit kein neues System formen, sondern den Verlust selbst zur Denkfigur machen: das Denken als Aufmerksamkeit für das Fragmentarische, das Singuläre, das Unvereinbare.

Adorno hätte diesen Unglauben geteilt, aber er hätte ihn nicht gefeiert. Auch er wusste, dass das Ganze, das sich als Sinn ausgibt, eine Lüge ist – doch für ihn war diese Lüge der unvermeidliche Horizont, gegen den Kritik sich richtet. „Das Ganze ist das Unwahre“, dieser Satz aus den Minima Moralia meint nicht, dass es das Ganze nicht gäbe, sondern dass es existiert als objektive Unwahrheit, als gesellschaftliche Totalität, die sich dem Einzelnen aufzwingt. Die Dialektik lebt vom Schmerz der Vermittlung: Sie erkennt das Unwahre des Ganzen, ohne ihm zu entkommen. Adornos Denken bleibt dem Begriff treu, gerade indem es ihn verrät – es sucht, was sich nicht einfügen lässt, das Nichtidentische, das im Begriff erstickt wird, und bewahrt es als Stachel im Fleisch des Systems.

Lyotard dagegen will den Horizont auflösen. Er sieht im Beharren auf der Negativität eine Art asketische Wiederholung des Systems, einen Bannkreis, aus dem die Dialektik nie herausführt. Ihm gilt die Dialektik als fortgesetzte Metaphysik, als Versuch, das Unversöhnte durch seine Benennung zu bannen. Der Widerstreit, von dem er spricht, ist kein dialektischer mehr, sondern ein unendlicher: ein Aufeinanderprallen von Sprachspielen, das keinen Richter kennt und keine letzte Instanz, die über Sinn und Wahrheit entscheiden könnte. Er misstraut der Versöhnung durch Verneinung ebenso wie der durch Affirmation. Wo Adorno in der Negativität den letzten Ort des Widerstands erkennt, feiert Lyotard den Widerstreit selbst – als unaufhebbare Vielheit, als Unverfügbarkeit des Sinns.

Was bei Adorno noch Negativität heißt, wird bei Lyotard zur Differenz ohne Richtung. Der Widerstreit will das Unversöhnte bewahren, indem er jede Bewegung zur Versöhnung unterbindet. Damit verschiebt sich der Ort der Kritik. Wo Adorno noch auf das gesellschaftlich Vermittelte zielt – auf die objektive Form, in der die Macht sich verfestigt –, verlagert Lyotard das Politische ins Sprachliche: der Konflikt wird semantisch, nicht sozial. Jeder Widerstreit ist gleich ursprünglich, jede Stimme gleich unentscheidbar. Es gibt keine Instanz mehr, von der aus sich Ungerechtigkeit als Struktur begreifen ließe.

Wo keine Totalität mehr gedacht werden kann, lässt sich auch keine verneinen. Das Ganze verschwindet nicht, indem man es theoretisch suspendiert – es herrscht fort, nur dass die Kritik den Begriff verliert, mit dem sie es benennen könnte. Der Widerstreit ist universal, aber ungerichtet: ein Feld unendlicher Diskurse, in dem das Leiden nicht mehr zur Anklage wird, sondern zur Äußerung ohne Ort.

Adorno wusste, dass jede Negation das Affirmative in sich trägt – dass selbst das Nein noch in der Sprache des Ganzen gesprochen ist. Darum bleibt die Dialektik für ihn nicht Methode, sondern Form des Überlebens: ein Denken im Bann, das sich seiner eigenen Unfreiheit bewusst bleibt. Sie ist das Organ des Unversöhnten, nicht seine Auflösung. Das Denken kann dem Nichtidentischen nicht gerecht werden, indem es es feiert, sondern nur, indem es an seiner Unangemessenheit leidet. Wahrheit erscheint in diesem Leiden – als Spur desjenigen, was sich nicht aussagen lässt, aber im Falschen fortlebt.

Lyotard hingegen sucht eine Sprache jenseits des Banns, eine Sprache, die nicht mehr herrscht. Er suspendiert den Begriff der Vermittlung selbst. Zwischen den Diskursen, den Sprachspielen, herrscht kein Widerspruch mehr, sondern ein unentscheidbarer Streit, für den es keine gemeinsame Maßgabe gibt. Die Vernunft wird nicht mehr zum Richter, sondern zum Zeugen – sie hört, ohne zu urteilen. In dieser Geste liegt Größe und Gefahr zugleich: Größe, weil sie die Gewalt des Systems durch den Verzicht auf Urteil zu bannen sucht; Gefahr, weil sie den Ort der Kritik aufgibt, indem sie ihn ins Unentscheidbare verlegt.

Doch das Denken, das den Bann flieht, verliert leicht den Kontakt zur Welt, deren Bann es brechen wollte. Wenn Lyotard das Ende der Metaerzählungen verkündet, erhebt er damit nicht selbst einen universalen Anspruch? Ist nicht die Diagnose der condition postmoderne ihrerseits eine große Erzählung – die Erzählung vom Ende aller Erzählungen? Lyotard würde einwenden, sein Satz sei keine Theorie, sondern eine Beschreibung, eine Beobachtung des kulturellen Zustands. Doch kann man den Verlust der Legitimation beschreiben, ohne selbst eine Legitimationsinstanz zu beanspruchen? Die Frage führt in ein Paradox, das Lyotard nicht auflöst, sondern bewohnt.

Hierin liegt das Schicksal der Postmoderne: sie bewahrte das Pathos der Negativität, aber entleerte es seines historischen Gehalts. Der Widerstreit ist ein Nachhall der Dialektik, der ihren Grundton verloren hat. Wo Adorno das Leiden der Vernunft noch in die Gesellschaft zurückführt, isoliert Lyotard es im Sprachraum, als reine Erfahrung des Undarstellbaren. Was so als Befreiung erscheint, wird zur Sublimierung: das Unversöhnte wird gefeiert, aber nicht mehr begriffen. Der Abschied von der Dialektik ist kein Triumph, sondern ein Trauerakt – ein Versuch, das Denken zu retten, indem man es von der Hoffnung befreit.

Auch Lyotard bleibt von der Dialektik gezeichnet, wie der Schatten vom Licht, das ihn wirft. Sein Denken ist das Nachbild des Adornoschen, das sich abwendet und gerade darin seine Herkunft bezeugt. Unter der Geste der Befreiung vibriert das Echo der alten Dialektik. Auch Lyotards Widerstreit lebt vom Schmerz der Unvermitteltheit, von jener Unruhe, die Adorno das Nichtidentische nannte. Nur dass bei Lyotard der Schmerz ästhetisch sublimiert wird: er wird zur Figur, zum Zeichen, zum Schweigen, das als solches sprechen soll. Die Geschichte verschwindet aus diesem Schweigen; was bleibt, ist die Singularität des Ereignisses, das sich keiner Sprache fügt.

Der Widerstreit ist nichts anderes als die postmoderne Form des Nichtidentischen – befreit von der Hoffnung auf Vermittlung, aber verstrickt in das Schweigen, das daraus folgt. Was bei Adorno noch Aufschrei war, wird bei Lyotard Flüstern. Und in diesem Übergang zeigt sich die Verschiebung einer ganzen Epoche: das Denken lernt, das Unversöhnliche nicht mehr zu überwinden, sondern auszuhalten – nicht mehr das Ende der Geschichte zu verkünden, sondern ihr Echo zu hören.

So begegnen sich beide – Adorno und Lyotard – in einer paradoxen Intimität: der eine als letzter Hüter der negativen Vernunft, der andere als Chronist ihres Verstummens. Die Frage, die zwischen ihnen offen bleibt, ist die Frage an uns: Kann das Denken noch wahr sein, wenn das Ganze zur Lüge geworden ist? Und wenn es keine Sprache mehr gibt, die das Ganze zu fassen vermag – bleibt dann nur das Schweigen, oder gibt es eine Kritik, die gerade im Verlust ihrer Grundlage ihre letzte Möglichkeit findet?

Diese Frage treibt auch dort weiter, wo beide sich am nächsten kommen: in der Kunst. Denn dort, wo der Begriff scheitert, beginnt das Hören.

II. Ästhetik – Das Erhabene und das Nichtidentische

Wenn Denken zur Sprache kommt, spricht es von dem, was ihm entgleitet. Nur in der Kunst, so schien es Adorno, kann das Unaussprechliche eine Form finden, die nicht zur Formel wird. In ihr überlebt das Nichtidentische, weil die Form es nicht auflöst, sondern bewahrt – als Spannung, als Riss, als Schweigen im Klang. Kunst ist für ihn das Echo des Leidens, das nicht verstummt, sondern in Gestalt sich verwandelt. Ihr Wahrheitsgehalt liegt nicht im Ausdruck, sondern im Widerstand gegen ihn. Die ästhetische Erfahrung ist keine Flucht aus dem Begriff, sondern seine äußerste Anspannung: dort, wo die Sprache nicht mehr trägt, spricht die Form.

Auch Lyotard sucht in der Kunst jenen Ort, an dem das Unrepräsentierbare berührt werden kann, ohne dass es zur Darstellung gezwungen wird. Das Erhabene, das er aus der kantischen Tradition löst und ins Spätmoderne überführt, ist die Erfahrung der Grenze: die Erschütterung, die entsteht, wenn die Einbildungskraft versagt, wenn das Denken das Ereignis nicht mehr fassen kann. Bei Kant war das Erhabene noch ein Triumph der Vernunft – die Einbildungskraft scheitert, aber die Vernunft erhebt sich über das Sinnliche. Bei Lyotard wird es zum Zeichen der Ohnmacht: das Denken steht vor dem, was es nicht darstellen kann, und diese Undarstellbarkeit wird nicht überwunden, sondern ausgehalten. Die Kunst der Moderne, so Lyotard, ist die Kunst des Erhabenen – sie stellt nicht das Unpräsentierbare dar, sondern dass es etwas Unpräsentierbares gibt.

Beide eint die Erfahrung des Bruchs, doch sie deuten ihn verschieden. Für Adorno ist die Form der Ort der Negativität: sie artikuliert das Unversöhnte gerade durch ihre Geschlossenheit, die nie ganz gelingt. Das Kunstwerk ist bei ihm nicht Ausdruck eines Subjekts, sondern objektive Chiffre der gesellschaftlichen Widersprüche. In der Spannung zwischen Ordnung und Auflösung, in der Dialektik von Gestalt und Fragment, offenbart sich die Wahrheit als Unruhe. Die Form ist nicht Harmonie, sondern geronnener Konflikt – sie trägt die Geschichte in sich, auch wenn sie nichts erzählt. Darum bleibt Adornos Kunstbegriff an die Mimesis gebunden: das Kunstwerk ahmt nicht die Wirklichkeit nach, sondern das Leiden an ihr. Es ist Gedächtnis des Unterdrückten, das in der Form überlebt.

Lyotard dagegen will die Form sprengen. Wo Adorno in der Form das Medium der Erfahrung sah, erkennt Lyotard in der Form selbst die Gefahr der Gewalt. Denn jede Form ist bereits Vermittlung, bereits Versuch, das Ereignis in Sprache zu bannen. Das Erhabene ist für ihn gerade das Moment, in dem die Form zusammenbricht – der Schock, der das Denken stumm macht. Das Kunstwerk soll nicht mehr vermitteln, sondern bezeugen: dass es etwas gibt, das sich entzieht. Die Avantgarde wird ihm zur Zeugin dieser Entzogenheit: nicht mehr Darstellung, sondern Verweigerung der Darstellung; nicht mehr Gestalt, sondern Geste des Rückzugs.

Darum ist Adornos Kunstbegriff tragisch, Lyotards mystisch. Adorno traut der Form, solange sie an ihrem Zerfall festhält; Lyotard traut nur dem Augenblick, in dem sie zusammenbricht. Bei Adorno wird das Erhabene zur geschichtlichen Kategorie – ein Nachklang des Schreckens, der in die Form gebannt ist. Die Kunst erinnert an Auschwitz, nicht indem sie es darstellt, sondern indem sie die Unmöglichkeit der Darstellung in ihre Gestalt aufnimmt. Bei Lyotard verliert das Erhabene diese Geschichtlichkeit: es wird zu einer Ontologie des Bruchs, einem metaphysischen Pathos des Unrepräsentierbaren. Das Ereignis, von dem er spricht, ist nicht mehr historisch vermittelt – es ist singulär, unverfügbar, jenseits der Sprache.

Hier liegt die Gefahr. Wenn das Erhabene aus der Geschichte gelöst wird, droht es zur ästhetischen Kategorie zu gerinnen, die das Leiden feiert, ohne es zu begreifen. Adorno wusste, dass jede Ästhetisierung des Schreckens seine Wiederholung vorbereitet. Das Kunstwerk darf das Leiden nicht versöhnen, aber es muss es erinnern – als gesellschaftlich Vermitteltes, nicht als metaphysische Unverfügbarkeit. Lyotards Erhabenes hingegen schwebt über der Geschichte: es ist reine Präsenz des Unpräsentierbaren, losgelöst von den Bedingungen, die es hervorbrachten. Was als Radikalität erscheint – die Weigerung, das Ereignis zu vermitteln –, wird zur Abstraktion, die dem Ereignis seine Wahrheit raubt.

Beide wenden sich gegen die Kulturindustrie, gegen jene Maschinerie, die aus Kunst Ware macht und aus Erfahrung Konsum. Für Adorno ist die Kulturindustrie der Tod der Kunst, weil sie die Spannung auflöst, die das Kunstwerk trägt – sie glättet, was rau sein muss, versöhnt, was unversöhnt bleiben soll. Lyotard teilt diese Kritik, doch er radikalisiert sie: nicht nur die Kulturindustrie ist das Problem, sondern jede Form, die sich als gelungen ausgibt. Die Kunst muss scheitern, um wahr zu sein.

Vielleicht ist das ihr gemeinsames Vermächtnis – dass die Ästhetik das Denken rettet, indem sie es an seine Ohnmacht erinnert. Denn dort, wo der Begriff scheitert, beginnt das Hören. Die Kunst ist das Ohr der Vernunft: sie hört das, was die Sprache verschweigt. In diesem Hören begegnen sich Adorno und Lyotard – als zwei Formen derselben Sehnsucht, dass Wahrheit noch klingen möge, selbst wenn sie schon verstummt ist.

Doch die Frage bleibt: Reicht das Hören? Adorno hätte gesagt: Nein. Die Kunst mag bezeugen, dass es das Leiden gab – aber sie kann es nicht erklären. Dazu bedarf es des Begriffs, der die gesellschaftlichen Bedingungen benennt, unter denen das Leiden entstand. Lyotards Ästhetik des Erhabenen droht, die Kunst von dieser Aufgabe zu entbinden. Sie wird zum Schweigen gebracht, nicht weil sie nichts zu sagen hätte, sondern weil das Sagen selbst als Gewalt gilt. So wird die Kunst zur reinen Präsenz – schön, erschütternd, aber stumm gegenüber den Strukturen, die sie hervorbrachten.

Diese Stummheit mag ihre Momente haben – sie erinnert daran, dass nicht alles sagbar ist. Doch sie droht, die Kunst von ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zu entbinden. Lyotard bewahrt, was Adorno zu verlieren drohte: die Erfahrung der Grenze, an der die Sprache endet. Aber er verliert darüber das, was Adorno festhielt: dass ohne den Begriff keine Kritik der Bedingungen möglich ist, unter denen diese Grenze entsteht. Die Kunst bleibt der Ort, an dem der Begriff an seine Grenze stößt – aber diese Grenze darf nicht zum Alibi werden, die gesellschaftliche Vermittlung des Leidens zu verschweigen.

Denn die Frage, die hier gestellt wird, ist nicht nur ästhetisch, sondern ethisch: Wie spricht man von dem, was nicht gesagt werden kann? Und wie schweigt man, ohne zu vergessen?

III. Gerechtigkeit ohne Maßstab – Der Widerstreit und das Politische

Das Politische beginnt dort, wo die Sprache endet. Lyotard wusste das. Sein Différend ist kein juristischer Begriff, sondern die Signatur einer Erfahrung: dass es Unrecht gibt, das sich nicht aussprechen lässt, weil die Sprache, in der es gesagt werden müsste, dem Opfer verweigert wird. Der Widerstreit entsteht, wenn zwei Diskurse aufeinandertreffen und keiner dem anderen das Recht zugesteht, gehört zu werden. Es gibt keinen neutralen Richter, keine gemeinsame Sprache, in der sich der Konflikt austragen ließe. Was bleibt, ist das Schweigen dessen, der Unrecht erlitt, aber nicht klagen kann – weil die Klage bereits die Sprache des Täters sprechen müsste.

Das ist radikal gedacht. Es widerspricht allem, was Aufklärung einst versprach: dass Vernunft vermitteln könne, dass Gerechtigkeit eine universale Form habe. Lyotard zerschlägt diese Hoffnung. Nicht aus Zynismus, sondern aus Gewissen. Auch er will verhindern, dass das Denken wieder zum Werkzeug der Macht wird, die sich Befreiung nennt. Jede Metaerzählung, die Gerechtigkeit verspricht, hat Terror hervorgebracht. Fortschritt endete in Kolonialismus, Emanzipation in Gulag, Vernunft in Verwaltung. Der Widerstreit ist Lyotards Antwort auf diese Geschichte: Gerechtigkeit nicht als Programm, sondern als Aufmerksamkeit für das, was keine Stimme hat.

Adorno hätte das verstanden. Auch er wusste, dass das Richtige nicht als System erscheinen darf. Die Negative Dialektik ist gerade der Versuch, dem Begriff zu misstrauen, ohne ihn aufzugeben. Doch Lyotards Misstrauen geht weiter. Es richtet sich nicht nur gegen das falsche Ganze, sondern gegen jedes Ganze. Der Widerstreit ist nicht dialektisch – er sucht keine Vermittlung, keine Aufhebung. Er bleibt stehen. Das Unrecht wird bezeugt, aber nicht begriffen. Die Stimme des Opfers wird gehört, aber nicht in eine Sprache übersetzt, die über sie urteilen könnte.

Und hier beginnt das Problem. Wo keine gemeinsame Sprache ist, gibt es auch keine Kritik. Adorno hatte darauf bestanden: Das Ganze ist unwahr, aber es existiert. Es existiert als objektive Struktur, als gesellschaftliche Form, die sich dem Einzelnen aufzwingt. Nur wer diese Struktur begreift, kann sie verneinen. Lyotards Widerstreit löst die Struktur auf. Er pluralisiert das Unrecht, macht es zur Sache der Perspektive, des Sprachspiels. Jeder Diskurs hat seine eigene Rationalität, seine eigenen Regeln. Es gibt keine Metaebene, von der aus sich sagen ließe: Das ist falsch.

Das ist konsequent, aber es ist gelähmt. Denn wenn jeder Widerstreit gleich ursprünglich ist, wie lässt sich dann noch unterscheiden zwischen dem Schrei des Gefolterten und der Rechtfertigung des Folternden? Lyotard würde sagen: Indem man dem Schrei das Gehör gibt, das ihm die Macht verweigert. Aber wer entscheidet, wem gehört werden soll? Die Antwort: niemand. Der Philosoph wird zum Zeugen, nicht zum Richter. Er hört, er bezeugt, er schweigt. Das ist seine Ethik.

Adorno hätte darin die Vollendung der Ohnmacht gesehen. Kritik ohne Objekt. Die Dialektik lebte davon, dass sie das Unwahre benennen konnte – nicht aus einer Position jenseits der Geschichte, sondern aus der Erfahrung des Leidens, das die Geschichte hervorbringt. Das Leiden ist nicht partikular, es ist vermittelt: durch Herrschaft, durch Ausbeutung, durch die objektive Form der Gesellschaft. Wer diese Vermittlung aufgibt, macht das Leiden sprachlos. Es gibt das Unrecht, aber keine Sprache mehr, die sagen könnte: So ist es nicht richtig.

Lyotards Widerstreit führt in ein Paradox. Er will das Andere retten, das sich nicht ins System fügt – aber er verliert die Möglichkeit, das System zu kritisieren. Die Sprachspiele sind gleichberechtigt, aber die Macht ist es nicht. Es gibt Diskurse, die herrschen, und Diskurse, die verstummen. Doch wenn es keine Instanz gibt, die diese Differenz benennen kann, bleibt nur die Deskription: Es gibt Widerstreit. Das ist wahr, aber es ist leer.

Lyotard erklärt die Leere zum Ort der Gerechtigkeit. Keine Lösung, keine Vermittlung, nur die Anerkennung, dass der Konflikt nicht aufhebbar ist. Das Politische wird zur Ethik des Hörens. Doch die Leere bleibt leer, auch wenn man sie nobilitiert. Das Hören allein verändert nichts. Die Macht hört nicht. Sie spricht weiter, in ihrer eigenen Sprache, und die Ohnmacht bleibt stumm.

Lyotards Misstrauen gegen die Vermittlung hat seinen Grund: Jeder Begriff enthält Gewalt, er richtet das Leiden zu, das er fassen will. Adorno wusste das. Aber er hielt am Begriff fest, weil ohne ihn keine Kritik möglich ist. Lyotard lässt ihn los und verliert damit die Möglichkeit, Herrschaft als Struktur zu benennen. Beide Gesten sind notwendig, beide unzureichend – doch nur die erste bewahrt die Möglichkeit von Kritik.

Ohne Adornos Begriff des Ganzen verliert Lyotards Differenz jede Richtung – der Widerstreit wird beliebig, das Leiden anonym. Ohne Lyotards Misstrauen gegen das Ganze droht Adornos Negativität zu erstarren – die Kritik wird selbst zum System, das sie durchschauen wollte. Das Politische bleibt als offene Wunde bestehen: nicht mehr als Versprechen, sondern als Aufgabe, die sich nur in der Sprache des Scheiterns sagen lässt.

Gerechtigkeit ohne Maßstab ist keine Gerechtigkeit. Aber Gerechtigkeit als System ist Terror. Zwischen beidem irrt das Denken, und dieses Irren ist kein Mangel – es ist die einzige Haltung, die der Komplexität des Unrechts noch gerecht werden kann, ohne es zu verraten.

Man wird einwenden: Ist diese Verteidigung des Begriffs nicht selbst schon dogmatisch? Klammert sie sich an Adorno, weil sie ohne ihn orientierungslos wäre?

Die Frage ist berechtigt. Auch die Negativität kann erstarren, auch das Festhalten am Begriff kann zur Geste werden, die nichts mehr bewegt. Die Negative Dialektik lebt davon, dass sie sich selbst nicht verschont – dass sie auch die eigene Haltung der Kritik aussetzt.

Doch das heißt nicht, dass Lyotard recht hätte. Die Selbstkritik der Negativität führt nicht zu ihrer Aufhebung, sondern zu ihrer Verschärfung. Gerade weil der Begriff Gewalt enthält, muss er bewusst eingesetzt werden – nicht als Herrschaft über das Andere, sondern als Instrument, das die Strukturen der Herrschaft benennt. Wer den Begriff aufgibt, gibt diese Möglichkeit auf.

Die Frage bleibt: Kann ein Denken, das sich selbst misstraut, noch urteilen? Die Antwort lautet: Es muss, gerade weil es sich misstraut. Das ist keine Lösung, sondern die Spannung, in der kritisches Denken allein noch möglich ist.

IV. Auschwitz – Das Unsagbare und die Pflicht des Begriffs

Es gibt ein Schweigen, das beredt ist, und eines, das verstummt. Beide, Adorno wie Lyotard, denken nach Auschwitz – aber sie ziehen verschiedene Konsequenzen aus dem Bruch, den dieser Name bezeichnet. Für Adorno war Auschwitz die Zäsur, nach der nichts mehr sein kann wie zuvor. Sein Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, war kein Verdikt über die Kunst, sondern über die Kultur, die Auschwitz möglich machte. Die Frage war nicht, ob man sprechen darf, sondern wie man sprechen kann, wenn die Sprache selbst vom Grauen durchzogen ist. Die Kultur, die sich nach Auschwitz fortsetzt, als wäre nichts geschehen, ist Müll. Sie versöhnt, wo nichts zu versöhnen ist.

Lyotard nimmt diesen Gedanken auf, aber er verschiebt ihn gefährlich. In Le Différend wird Auschwitz zur Chiffre des Widerstreits schlechthin: das Ereignis, das sich nicht darstellen lässt, weil die Opfer keine Sprache mehr haben, in der sie klagen könnten. Der Zeuge ist tot, und wer überlebte, kann nicht bezeugen, was geschah – denn das Zeugnis verlangt eine Sprache, die das Unrecht in Begriffe fasst, und diese Begriffe entstammen der Ordnung, die das Unrecht hervorbrachte. So entsteht ein Widerstreit: Das Unrecht ist geschehen, aber es lässt sich nicht sagen. Wer es sagt, verrät es bereits. Wer schweigt, lässt es verschwinden.

Lyotard sieht, dass jede Sprache dem Leiden Gewalt antut. Die juridische Sprache, die von „Opfern“ spricht, macht aus Menschen Kategorien. Die historische Sprache, die Zahlen nennt, macht aus dem Schrecken Statistik. Selbst die philosophische Sprache, die nach dem Sinn fragt, droht das Sinnlose zu rationalisieren. Darum, so Lyotard, muss das Denken innehalten, bevor es spricht. Es muss dem Schweigen Raum geben – nicht als Resignation, sondern als Respekt vor dem, was sich nicht fassen lässt.

Doch in dieser Einsicht lauert die Gefahr, der Lyotard nicht entgeht: Das Schweigen wird zum Alibi. Es überlässt das Feld denen, die ohnehin sprechen – den Leugnern, den Verharmlosern, denen, die das Geschehene aus der Geschichte tilgen wollen. Das Schweigen ist Luxus. Es gibt sich ehrfürchtig, aber es ist Rückzug. Und dieser Rückzug, bei allem guten Willen, ist eine Form des Verrats.

Der Begriff mag unzulänglich sein, aber er ist notwendig. Nicht um das Leiden zu erfassen – das kann er nicht –, sondern um die Bedingungen zu benennen, unter denen es geschah. Auschwitz ist nicht das Unsagbare, es ist das, was gesagt werden muss, auch wenn die Sprache daran zerbricht. Denn ohne die Analyse der gesellschaftlichen Strukturen, die den Terror ermöglichten – die ökonomischen, die politischen, die ideologischen –, bleibt nur das hilflose Staunen vor dem Unbegreiflichen. Und dieses Staunen ist, bei aller Ehrfurcht, ohnmächtig.

Die Dialektik der Aufklärung zeigt, wie Vernunft in ihr Gegenteil umschlägt, wie Rationalität zur Herrschaft wird, die keine Grenze mehr kennt. Auschwitz ist nicht der Bruch mit der Zivilisation, sondern ihre Konsequenz. Es war die Vernunft, die sich selbst vernichtete – und diese Selbstvernichtung muss begriffen werden, wenn sie sich nicht wiederholen soll. Lyotards Schweigen mystifiziert das Geschehene. Es macht aus Auschwitz ein absolut Singuläres, ein Ereignis jenseits aller Vermittlung. Damit verliert es seine geschichtliche Wahrheit.

Der Begriff kann nicht fassen, was geschah, ohne es zu verraten – das wusste auch Adorno. Jede Darstellung des Leidens verdinglicht es, jede Analyse zwingt es in Kategorien, die ihm nicht gerecht werden. Darum bleibt auch seine Sprache gebrochen, parataktisch, widerspenstig gegen die Glätte des Systems. Die Negative Dialektik ist der Versuch, im Begriff gegen den Begriff zu denken – das Nichtidentische zu wahren, auch wenn es nur im Medium der Identität erscheinen kann.

Doch das Schweigen verrät das Leiden vollends. Es gibt das Geschehene der Vergessenheit preis, indem es die Analyse seiner Bedingungen verweigert. Lyotard verwechselt die Unangemessenheit des Begriffs mit seiner Unmöglichkeit. Er schützt nicht die Würde des Geschehenen, sondern entzieht es der Kritik – und damit der Möglichkeit, seine Wiederkehr zu verhindern.

Auschwitz bleibt der Name einer Unmöglichkeit – aber nicht der Unmöglichkeit zu sprechen, sondern der Unmöglichkeit, angemessen zu sprechen. Das Gedicht nach Auschwitz ist nicht unmöglich, es ist unerträglich. Aber dieses Unerträgliche muss ausgehalten werden, weil das Verstummen schlimmer wäre als das Stammeln. Denn das Stammeln bezeugt wenigstens, dass es etwas zu sagen gab. Das Schweigen hingegen lässt die Täter gewähren.

So trennen sich die Wege endgültig. Lyotard bewahrt das Ereignis, indem er es der Sprache entzieht. Adorno besteht darauf, dass es gesagt werden muss – nicht um es zu begreifen, sondern um die Strukturen zu durchschauen, die es hervorbrachten. Das ist keine Wahl zwischen zwei gleichberechtigten Positionen. Es ist die Wahl zwischen Kritik und Kapitulation.

Die Kunst, die Lyotard vorschwebt, ist eine Kunst des Rückzugs – sie verweigert die Darstellung, um die Würde des Undarstellbaren zu wahren. Doch diese Würde ist teuer erkauft: Sie macht aus dem Leiden ein Mysterium, dem nur noch ehrfürchtig zu begegnen ist. Adornos Kunst dagegen bleibt dem Leiden verpflichtet, indem sie es als gesellschaftlich Vermitteltes erinnert. Sie versöhnt nicht, aber sie vergisst auch nicht. Sie hält fest, was Lyotards Schweigen preisgibt: dass das Leiden einen Namen hat, eine Ursache, eine Geschichte.

Das ist die Aufgabe, der sich das Denken nicht entziehen darf. Zu sprechen, auch wenn die Sprache nicht ausreicht. Zu begreifen, auch wenn der Begriff das Leid nicht fassen kann. Zu erinnern, auch wenn die Erinnerung schmerzt. Lyotards Schweigen mag ehrenhaft gemeint sein – aber es ist Verrat an denen, die keine Stimme mehr haben. Denn wer nicht spricht, überlässt das Sprechen den Tätern.

V. Affirmation und Rettung – Die Forderung nach dem Ja

In seinem Aufsatz „Adorno come diavolo“ nennt Lyotard Adorno den Teufel – nicht aus Verachtung, sondern aus Respekt. Der Teufel ist der Neinsager, der Verweigerer, der keine Versöhnung duldet. Adornos Denken, so Lyotard, ist die konsequenteste Form der Negation, die die Moderne hervorgebracht hat. Es verweigert sich allem: dem System, der Affirmation, der Hoffnung. Es bleibt im Nein stehen, weil jedes Ja die Lüge des Bestehenden wiederholen würde. Das ist seine Größe. Aber es ist auch seine Grenze.

Denn Lyotard fragt: Kann ein Denken, das nur verneint, noch leben? Kann Kritik, die sich jeder Affirmation versagt, noch eingreifen in die Welt, die sie durchschaut? Adornos Negative Dialektik ist für Lyotard der Endpunkt einer Bewegung, die an ihrer eigenen Konsequenz erstickt. Sie durchschaut das Falsche, aber sie kann das Richtige nicht mehr denken. Sie weiß, was nicht sein soll, aber nicht, was sein könnte. So wird die Kritik zur Klage, das Denken zur Trauer ohne Ausgang.

Lyotards Einwand ist nicht, dass Adorno unrecht hätte. Im Gegenteil: Er erkennt an, dass die Negative Dialektik das ehrlichste Denken ihrer Zeit war. Aber er fragt, ob diese Ehrlichkeit nicht zu teuer erkauft ist. Ob die Treue zur Negativität nicht selbst eine Form der Lähmung wird. Darum fordert Lyotard eine Wende: vom Nein zum Ja. Nicht zur Affirmation des Bestehenden, sondern zur Bejahung dessen, was sich dem Begriff entzieht – der Singularität, des Ereignisses, der Differenz, die keine Vermittlung mehr sucht.

Das ist keine Kapitulation vor der Welt, wie sie ist. Es ist der Versuch, dem Denken eine andere Form zu geben: nicht mehr die Kritik als Verneinung, sondern die Philosophie als Zeugnis. Der Philosoph soll nicht mehr urteilen, sondern hören. Er soll nicht mehr das Ganze durchschauen, sondern dem Einzelnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das Ja, von dem Lyotard spricht, ist ein Ja zum Widerstreit selbst – zur Vielheit der Stimmen, die keine Synthese mehr zulässt.

Aus adornitischer Perspektive ist das bedenklich. Denn die Affirmation der Differenz, so notwendig sie scheinen mag, läuft Gefahr, das Bestehende zu bestätigen. Wenn es keine gemeinsame Sprache mehr gibt, wenn jeder Diskurs sein eigenes Recht hat, dann gibt es auch keine Möglichkeit mehr, Herrschaft als Herrschaft zu erkennen. Die Macht spricht weiter, und das Denken hört ihr zu – aber es kann ihr nicht mehr widersprechen, weil es keinen Standpunkt mehr hat, von dem aus sich widersprechen ließe.

Adornos Nein war kein bloßer Pessimismus. Es war die letzte Form von Widerstand gegen eine Welt, die das Falsche als Notwendigkeit ausgibt. Die Negative Dialektik hält am Begriff fest, gerade weil sie weiß, dass der Begriff nicht ausreicht. Sie verneint das Ganze, weil das Ganze die Negation des Einzelnen ist. Lyotards Ja dagegen droht, diese Spannung aufzulösen. Es bejaht das Einzelne, aber es verliert den Begriff des Ganzen, gegen den das Einzelne sich behaupten muss.

Lyotards Forderung hat ihren Moment: Adornos Denken drohte in der Tat zu erstarren. Die Negativität, die bei ihm noch Bewegung war, wurde bei seinen Epigonen oft zur Geste, zur Attitüde des Durchschauens, die nichts mehr durchschaut. Die Kritik wurde selbstgenügsam, sie genoss ihre eigene Klugheit, ohne noch etwas zu verändern. Lyotard spürt diese Gefahr und sucht einen Ausweg: eine Philosophie, die nicht mehr nur verneint, sondern die dem Anderen Raum gibt, ohne es zu vereinnahmen.

Lyotards Denken war die letzte Geste des modernen Bewusstseins – der Versuch, aus dem Nein Adornos ein leises Ja zu machen, ohne in den Jubel des Vergessens zu verfallen. Seine Affirmation war keine des Bestehenden, sondern des Widerstreits selbst: ein Lob der Unruhe, das in seiner Zartheit die Müdigkeit der Epoche verrät. Adorno hätte in dieser Affirmation die Spur der Verzweiflung erkannt, die sich in ihr zu verbergen sucht. Denn ein Denken, das sich selbst genügt, droht dem Leiden den Rücken zu kehren, dem es verpflichtet bleibt.

In Lyotards Geste liegt ein Moment des Trostes, das Adornos Denken versagt bleibt. Während jener im Bann des Negativen verharrt – das Denken als fortgesetzte Klage über die Welt –, erlaubt sich dieser ein Vertrauen in das, was dem Begriff entkommt. Was Adorno Negativität nannte, wird in Lyotards Spätwerk zur Zärtlichkeit: eine Ethik des Hörens, die sich dem Anderen nicht durch Vermittlung, sondern durch Schweigen nähert. Das Denken verneint nicht mehr, es lauscht.

Aber kann das Lauschen genügen? Reicht es, Zeuge zu sein, wenn die Welt brennt? Adorno hätte gesagt: Nein. Das Zeugnis mag notwendig sein, aber es ist nicht hinreichend. Denn das Zeugnis benennt nicht die Bedingungen, unter denen das Unrecht entstand. Es hört das Leiden, aber es erklärt es nicht. Und ohne Erklärung gibt es keine Möglichkeit, das Leiden zu beenden.

So stehen beide am Ende der Moderne wie zwei Gestalten derselben Melancholie: Adorno, der die Wahrheit im Bruch der Formen sucht, und Lyotard, der sie im Schweigen ihrer Unmöglichkeit findet. Zwischen ihnen liegt kein Gegensatz, sondern eine Verlagerung der Hoffnung. Wo Adorno noch an die Möglichkeit eines wahren Satzes glaubte, glaubt Lyotard an das Recht des Nicht-Sagbaren. Beides sind Formen des Widerstands – das eine tragisch, das andere elegisch.

Die Frage bleibt: Braucht das Denken das Nein oder das Ja? Lyotards Geste hat ihren Moment – sie warnt vor der Gewalt des Begriffs. Doch sie entwaffnet die Kritik. Ohne Adornos Insistenz auf dem Begriff verliert sie jede Orientierung. Die Negativität mag zur Geste erstarren – aber ihre Preisgabe ist schlimmer als ihre Erstarrung.

Nachklang – Über die Möglichkeit von Kritik heute

Als ich mich Mitte der achtziger Jahre zum ersten Mal mit Lyotards Werk auseinandersetzte, schien mir seine Diagnose vom Ende der Metaerzählungen zunächst eine Befreiung. Wir waren müde geworden, jene Generation, die im Schatten der gescheiterten Revolutionen aufwuchs. Die großen Erzählungen hatten ihre Versprechen nicht gehalten, und Lyotard schien einen Weg zu weisen, wie man denken konnte, ohne sich erneut an ein System zu binden, das in Terror enden würde. Das Misstrauen gegen die Totalität erschien als Klugheit, die Differenz als Gerechtigkeit.

Doch je länger ich mit Adorno lebte – und man lebt mit Adorno, man liest ihn nicht nur –, desto deutlicher wurde mir, was in Lyotards Geste verloren ging. Es war nicht die Negativität selbst, die er aufgab, sondern ihre gesellschaftliche Vermittlung. Der Widerstreit war abstrakt geworden, er schwebte über der Geschichte, statt in sie einzugreifen. Das Leiden wurde singularisiert, verlor seinen Namen, seine Adresse. Und so schön es klang, vom Unrepräsentierbaren zu sprechen – es blieb die Frage: Wem diente dieses Schweigen?

Adorno hatte uns gelehrt, dass das Denken dem Leiden verpflichtet ist. Nicht dem Leiden als metaphysischer Kategorie, sondern dem konkreten, dem gesellschaftlich vermittelten Schmerz, der einen Namen hat und eine Ursache. Die Negative Dialektik war kein System, sondern eine Haltung: das Festhalten am Begriff, auch wenn er nicht ausreicht, weil ohne ihn keine Kritik möglich ist.

Doch heute, Jahrzehnte später, muss ich mich fragen: Ist nicht auch diese Treue zum Begriff zur Gewohnheit geworden? Habe ich Lyotards Philosophie des Widerstreits wirklich gelesen, oder habe ich in ihr nur die Bestätigung meiner eigenen Ängste gesucht – die Angst, dass ohne den Begriff alles zerfällt, dass ohne das Ganze keine Orientierung mehr bleibt?

Vielleicht war mein Festhalten an Adorno selbst schon eine Form der Identität, gegen die er sich gewandt hätte. Die Negative Dialektik lebt davon, dass sie auch die eigene Position nicht verschont, dass sie das Erstarrte in sich selbst erkennt. Und vielleicht ist das, was ich an Lyotard als Lähmung kritisierte, in Wahrheit eine Zumutung, der ich mich nicht stellen wollte: die Zumutung, auch den letzten Halt aufzugeben, den das Denken sich gebaut hatte.

Das heißt nicht, dass Lyotard einfach recht hätte. Seine Auflösung des Ganzen bleibt problematisch, wo sie die Strukturen der Macht aus dem Blick verliert. Aber es heißt, dass auch die adornitische Position sich nicht selbstgenügsam werden darf. Sie muss sich fragen lassen, ob ihr Insistieren auf der Vermittlung nicht selbst schon blind geworden ist für das, was sich nicht vermitteln lässt.

Vielleicht ist das die Lehre, die aus dieser Auseinandersetzung zu ziehen wäre: dass wir beides brauchen – Adornos Insistenz auf dem Begriff und Lyotards Misstrauen gegen ihn. Aber nicht als friedliche Koexistenz, sondern als ständige Unruhe. Das Denken müsste vom Einzelnen zur Struktur gehen und von der Struktur zum Einzelnen zurück, ohne bei einem der beiden zu verharren. Es müsste das Ganze denken können, ohne es zu totalisieren – das hieße: die Strukturen von Macht, Kapital, Herrschaft zu analysieren, aber zugleich anzuerkennen, dass diese Analyse nicht alle Formen des Leidens erfasst, dass es Erfahrungen gibt, die sich ihr entziehen.

Konkret: Den Begriff der Ideologie nicht aufzugeben, aber zu fragen, wessen Stimmen in diesem Begriff verstummen. Die Kritik der politischen Ökonomie fortzusetzen, aber zu hören, wo sie das Leiden auf Kategorien reduziert. Das Ganze als unwahr zu benennen, aber anzuerkennen, dass auch diese Benennung schon Gewalt enthält.

Das ist keine Synthese. Es ist eine doppelte Bewegung, die nicht zur Ruhe kommt. Und vielleicht ist gerade diese Unruhe das, was vom kritischen Denken zu retten ist – nicht mehr als System, nicht mehr als Methode, sondern als Haltung, die weder bei sich selbst noch beim Anderen stehenbleibt.

Denn die Welt, in der wir leben, hat sich seit Adorno und Lyotard nicht verbessert. Die Metaerzählungen sind verschwunden, aber die Herrschaft ist geblieben – nur dass sie sich heute nicht mehr als System ausgibt, sondern als Alternativlosigkeit. Die Kritik hat ihre Sprache verloren, und der Widerstreit ist längst zum Modus der Verwaltung geworden: Jeder darf sprechen, aber nichts ändert sich. Das Plurale wird gefeiert, aber die Macht bleibt konzentriert.

Gegen diese Lage hilft weder Adornos Nein allein noch Lyotards Ja. Was wir brauchen, ist ein Denken, das beides vermag: zu verneinen und zu hören, zu urteilen und zu schweigen, die Struktur zu durchschauen und das Einzelne zu achten. Ein Denken, das sich selbst nicht verschont, das auch die eigene Negativität noch einmal negiert, damit sie nicht zur bloßen Geste erstarrt.

Vielleicht ist dies das letzte Erbe der Kritischen Theorie: dass Denken sich nur noch in seiner Begrenzung behauptet – und in der Bereitschaft, diese Begrenzung immer wieder anzuerkennen. Adorno hat uns gelehrt, dass das Ganze unwahr ist. Lyotard hat uns gelehrt, dass es kein Ganzes mehr gibt. Beide haben recht. Und beide irren. Denn das Ganze existiert – als objektive Macht, als Struktur, die sich dem Einzelnen aufzwingt. Aber es lässt sich nicht mehr als geschlossenes System begreifen, es ist brüchig geworden, widersprüchlich, ungreifbar.

Das Denken muss in dieser Widersprüchlichkeit leben, ohne sie aufzulösen. Es muss sprechen, ohne zu verfügen. Es muss schweigen, ohne zu vergessen. Und es muss sich selbst misstrauen, auch dort, wo es sich am sichersten glaubt. Das ist keine Lösung, sondern eine Aufgabe. Aber vielleicht ist die Aufgabe selbst schon alles, was uns geblieben ist.

So schließt sich der Kreis, ohne sich zu vollenden. Adorno lehrt das Misstrauen, Lyotard das Ausharren. Beide wissen, dass Wahrheit kein Besitz ist, sondern eine Bewegung – ein Zittern der Sprache im Angesicht des Unversöhnlichen. Und vielleicht muss auch dieses Zittern sich selbst noch einmal befragen, damit es nicht zum Ritual wird.

Was bleibt, ist ein Denken, das weder heilt noch erlöst, sondern bezeugt: dass es das Leiden gab, und dass es gedacht werden wollte. Nicht, um es zu überwinden – das wäre Hybris. Sondern um zu verhindern, dass es ganz verstummt. Das ist wenig. Aber es ist nicht nichts. Und vielleicht ist dieses Nicht-Nichts die einzige Form von Hoffnung, die dem Denken noch erlaubt ist – wenn es bereit bleibt, auch diese Hoffnung noch einmal zu befragen:

nicht mehr, die Welt zu ändern,
sondern zu verhindern, dass sie ganz verstummt –
und zu verhindern, dass auch das Denken verstummt,
das diese Stummheit bezeugen will.

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