Wenn man vor Alberto Giacomettis Figuren steht, überfällt einen ein merkwürdiges Gefühl der Distanz – eine Distanz, die nicht Kälte ist, sondern Abgrund. Sie stehen da, wie eingefrorene Schatten, aus der Welt gefallen und doch durch sie hindurchgegangen, als hätten sie eine Schwelle überschritten, die wir noch vor uns haben. Kaum eine andere Kunstform des 20. Jahrhunderts hat den Schmerz der Existenz, die Zerbrechlichkeit der Wahrnehmung, das Verlieren und Suchen des Menschen im Raum so eindringlich gefasst – und dabei zugleich so radikal auf jede Versöhnung verzichtet. In der Kunsthalle Bremen, wo nun die große Retrospektive „Alberto Giacometti – Das Maß der Welt“ gezeigt wird, begegnet uns dieser Schmerz in neuer Gestalt – eingebettet in eine umfassende Schau, die den Bildhauer, Maler und Zeichner in seiner ganzen Spannweite zeigt: vom surrealistischen Experiment bis zu den fragilen Gestalten der Nachkriegszeit.
Ich erinnere mich an mein erstes Aufeinandertreffen mit Giacometti. Es war im Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk, unweit von Kopenhagen, wo seine Skulpturen auf der Klippe über dem Meer stehen, vom Wind umweht und vom Licht des Nordens umflutet. Diese Begegnung war mehr als ein ästhetischer Eindruck – sie war eine Erfahrung der Distanz selbst. Die Figuren standen nicht einfach da, sie beharrten – gegen den Wind, gegen das Licht, gegen das Verschwinden. Später, 2001, im Kunsthaus Zürich, anlässlich seines hundertsten Geburtstags, verdichtete sich dieses Gefühl: Giacomettis Figuren, die wie aus der Materie des Leidens selbst modelliert scheinen, traten mir entgegen als Bilder einer negativen Theologie der Moderne.
Doch mein Zugang zu Giacometti führte zunächst über den Surrealismus, über die Schriften André Bretons und Louis Aragons, über die Träume, die sich der Wirklichkeit entgegenstellen sollten. Giacometti war zwischen 1930 und 1935 Teil jener Bewegung, die das Unbewusste, das Traumhafte, das Zufällige als Gegenbild zur rationalisierten Welt begriff – und die in der Kunst eine Befreiung der Phantasie vom Diktat des Sichtbaren suchte. Der Surrealismus war eine Revolte gegen die positivistische Vernunft, eine Suche nach dem „Wunderbaren“ im Alltäglichen.
Seine frühen Objekte, etwa La Boule suspendue (1930/31), schienen der Logik der Zweckrationalität Hohn zu sprechen. Die schwebende Kugel, die sich über eine gezackte Form neigt, ohne sie je zu berühren, ist eine perfekte Metapher des Begehrens – der ewigen Annäherung, die nie zur Erfüllung kommt. Breton erkannte darin sofort das surrealistische Ideal: ein Objekt, das nicht funktioniert, sondern bedeutet, das nicht dient, sondern begehrt. Es war Bretons Begriff des „magischen Objekts“, das die Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit markiert, zwischen Subjekt und Objekt.
Doch Giacometti trieb diese Bewegung weiter, als es Breton lieb war. Während der orthodoxe Surrealismus die Auflösung der Form im Traumhaften suchte, begann Giacometti, die Form selbst zu befragen – nicht als Flucht aus der Realität, sondern als Sonde in sie hinein. Georges Bataille, der dissidente Surrealist, hatte in seiner Zeitschrift Documents das Konzept des Informe entwickelt – des Formlosen, das nicht Chaos ist, sondern Widerstand gegen jede kategoriale Ordnung. Giacomettis Objekte aus dieser Zeit, etwa Pointe à l’œil (1931), eine aggressive, phallische Form, die auf ein Auge zielt, sind keine Traumbilder mehr, sondern Manifestationen einer Gewalt, die im Begehren selbst liegt. Sie sind, in Batailles Sinn, „niedrig“ – sie ziehen das Erhabene in den Schmutz.
In Paris begegnete er Michel Leiris – Ethnologe, Schriftsteller, Freund –, dessen Buch L’Afrique fantôme (1934) wie Giacomettis Skulpturen zwischen Beobachtung und Selbstverlust oszilliert. Leiris’ ethnografisches Tagebuch ist ein Dokument der Krise: Der Beobachter wird zum Beobachteten, das Fremde entfremdet das Eigene. Beide verband das Interesse an der Fragilität der Erfahrung, am „Zwischen“, in dem das Ich nicht mehr ganz bei sich ist. Leiris schrieb über die „Unmöglichkeit, sich selbst zu begegnen“, und Giacometti modellierte diese Unmöglichkeit in Bronze.
1935 brach Giacometti mit dem Surrealismus – oder vielmehr: Breton brach mit ihm. Der Grund war Giacomettis Rückkehr zur Arbeit „nach dem Modell“, zur Beobachtung der Wirklichkeit. Für Breton war dies Verrat, eine Kapitulation vor der bürgerlichen Kunst. Doch Giacometti sah darin das Gegenteil: nicht Flucht in die Träume, sondern radikale Konfrontation mit dem Sichtbaren. Ihm erschien die absolute Befreiung der Imagination bald ebenso leer wie die absolute Rationalität der Moderne. Der Surrealismus hatte das Unbewusste befreit – aber um den Preis, die Wirklichkeit preiszugeben. Giacometti jedoch wollte beides: die Wirklichkeit und ihre Unverfügbarkeit.
Statt in die Träume zu fliehen, begann er, die Realität selbst zu sezieren – mit dem Skalpell des Zweifels. Seine Figuren nach 1935 sind keine Rückkehr zum Realismus, sondern eine radikale Form der Erkenntniskritik: Sie zeigen, dass das Sichtbare nur durch den Abgrund des Unsichtbaren hindurch erfahrbar wird. Der Surrealismus hatte die Realität für unwirklich erklärt; Giacometti erklärt die Wirklichkeit für unerreichbar. Das ist der entscheidende Unterschied.
Hier berührt sich Giacometti mit Adorno. In der Negativen Dialektik insistiert Adorno darauf, dass das Denken das Nichtidentische nicht verschlingen darf. Jeder Begriff, so sagt er, sei immer auch ein Gewaltakt – eine Reduktion des Lebendigen auf das Verstehbare, eine Liquidation des Besonderen im Allgemeinen. Kunst, die diesem Identitätszwang widersteht, wird zur Stätte des Widerstands. In ihr spricht das Verstummte, das Nichtidentische – nicht als affirmativer Trost, sondern als Stachel im Bewusstsein.
Giacometti ist ein solcher Künstler der Negativität. Seine Figuren sind das Gegenteil der klassischen Skulptur: Sie wollen nicht Dauer, sondern Zerfall, nicht Präsenz, sondern Spur. Man sieht es etwa in Der Käfig (1950): Eine weibliche Figur steht in einem kastenförmigen Rahmen, gefangen und zugleich geborgen. Der Raum ist nicht Umgebung, sondern Gefängnis – und zugleich das einzige, was die Figur überhaupt sichtbar macht. Ohne den Käfig würde sie verschwinden. Der Raum ist hier nicht neutral, sondern negativ: Er ist die Bedingung der Möglichkeit von Präsenz – und zugleich ihre Grenze.
Die Körper sind bis aufs Äußerste verdünnt, als ob das Material selbst den Existenzdruck nicht mehr ertragen könnte. Was bleibt, ist ein Rest Menschlichkeit, ein Strich im Raum. Diese Reduktion ist keine Abstraktion im formalistischen Sinn – sie ist Leiden als Form. Adorno schreibt: „Die Kunst soll nicht das Leiden abbilden, sondern es in ihrer Gestalt tragen.“ Giacomettis Figuren tragen es: in ihrer Brüchigkeit, ihrer Vergeblichkeit, ihrer stummen Anwesenheit. Sie sind keine Abbilder, sondern Erinnerungen an eine Gestalt, die sich dem Sehen entzieht.
Und mehr noch: Sie sind keine Idealisierungen des Menschen, sondern Zeugnisse seiner gesellschaftlichen Beschädigung. Nach Auschwitz, nach der totalen Mobilmachung der Vernunft zur Vernichtung, konnte die Kunst nicht mehr tun, als hätte nichts stattgefunden. Giacomettis Figuren sind Überlebende – nicht im heroischen Sinn, sondern im nackten: Sie sind da, weil sie nicht tot sind. Ihre Dünnheit ist kein ästhetisches Spiel, sondern Index der Verausgabung, der Auszehrung. Sie sind, wie Adorno über Becketts Gestalten schrieb, „Figuren des Verwundeten“, die keinen Anspruch mehr auf Ganzheit erheben.
Die Bremer Ausstellung, die erste große Giacometti-Retrospektive in Deutschland seit über einem Jahrzehnt, macht dieses Verhältnis von Figur und Raum zum Zentrum ihrer Inszenierung. Zwischen den surrealistischen Objekten der 1930er Jahre und den schmalen Figuren der Nachkriegszeit öffnet sich ein Raum des Schweigens. Die Körper, von Licht und Schatten geteilt, treten einander gegenüber wie Zeugen verschiedener Wahrheiten derselben Verlorenheit.
Giacometti, der aus den Bergen des Bündnerlands stammt – aus Stampa im Bergell, einem Tal zwischen Fels und Himmel –, trug die Landschaft seiner Kindheit in seiner Wahrnehmung weiter. Ein Aquarell wie Hügel von Capolago und Silsersee (1919) zeigt nicht einfach einen See, sondern eine Struktur der Einsamkeit: Die Horizontlinie schwankt, die Berge sind nicht fest, sondern flüchtig. Es ist, als würde Giacometti bereits hier ahnen, dass Landschaft nie nur Natur ist, sondern immer auch Projektion, Erinnerung, Verlust.
Die Natur wird in diesen Bildern zur Folie der Existenz, nicht als romantische Idylle, sondern als Ort der Maßlosigkeit. Giacometti sah die Welt in Analogien: Ein Baum wurde zur stehenden Frau, ein Stein zum Kopf, ein Berg zu einer männlichen Büste. Das Maß der Welt, so der Titel der Schau, ist bei Giacometti gerade das Maßlose – die Unmöglichkeit, die Welt zu fassen, ohne sie zu verfehlen. Jede Messung ist Verlust, jede Form eine Reduktion. Und doch bleibt ihm nichts anderes, als zu messen, zu formen, zu scheitern – und wieder zu beginnen.
Adorno hätte in diesen Landschaften wohl den Versuch gesehen, die Entfremdung der Moderne zu artikulieren, ohne sie zu versöhnen. Denn auch hier gilt: Die Kunst spricht nicht über das Leiden, sie ist es. Giacomettis Figuren sind aus Bronze, und doch scheinen sie brüchig wie Staub. Sie stehen, und doch drohen sie zu fallen. Sie schreiten, und doch bleiben sie gebunden – an die Schwere der Welt, die sie hervorgebracht hat.
Gerade in Bremen erfährt diese Dialektik eine neue Wendung. Im Mittelsaal steht das Werk L’homme qui ne marche pas des Künstlerduos Elmgreen & Dragset – eine ironische Hommage an Giacometti. Der berühmte schreitende Mann ist hier mit einer Kugel und Kette an den Boden gefesselt, „von seinem existenzialistischen Ballast zurückgehalten“, wie die Kuratoren schreiben. Die Ironie ist offensichtlich – und zugleich tief. Denn das, was Giacometti suchte, war ja gerade der Moment zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Leben und Erstarrung. Elmgreen & Dragset haben dieses Paradox nur wörtlich genommen: Der Mensch schreitet nicht, weil die Welt ihn bindet.
Giacomettis Figuren sind keine heroischen Träger des Humanismus mehr, sondern Opfer der eigenen Geschichtlichkeit. Nach dem Krieg, in einer Zeit, in der die Menschheit ihre Fähigkeit zur Barbarei unter Beweis gestellt hatte, suchte Giacometti nach einem neuen Anfang – nicht im Pathos, sondern im Fragment. In Genf, wohin er sich während des Krieges zurückgezogen hatte, arbeitete er an miniaturhaft kleinen Figuren, die in Streichholzschachteln passten. Als könnte der Mensch nur noch als Miniatur überleben, als Spur seiner selbst.
Zurück in Paris, nach 1945, modellierte er die Körper immer wieder neu, trieb sie ins Unendliche, bis sie sich auflösten. „Ich sehe nur das, was ich nicht fertigbringen kann“, schrieb er. Diese Unabschließbarkeit, diese Weigerung, das Werk zu vollenden, ist seine Wahrheit: Die Vollendung wäre Lüge. Jedes abgeschlossene Werk würde behaupten, die Wirklichkeit sei greifbar, fassbar, verstehbar. Giacometti widerspricht: Die Wirklichkeit ist unabschließbar, und die Kunst muss es auch sein.
Doch in dieser Negativität liegt auch eine merkwürdige Würde – eine Würde, die nicht affirmativ ist, sondern widerständig. Giacomettis Figuren sind nicht bloß verzweifelt, sie sind auch trotzig. Ihr Stehen, ihr Gehen, ihr Dasein im Raum ist eine Form des Widerstands gegen das Verschwinden. In ihrer Dünnheit liegt ein Pathos der Beharrlichkeit. Sie sind Zeugen einer Menschlichkeit, die sich weigert, aufgehoben zu werden – nicht im hegelschen, sondern im buchstäblichen Sinn: Sie weigern sich, gelöscht zu werden.
Benjamin hätte vielleicht gesagt: Diese Figuren sind „Engel der Geschichte“ – nicht in der Pose des Wissenden, sondern in der des von Trümmern Überwältigten. Benjamins Engel, den Paul Klee gemalt hat, will verweilen, wo wir Fortschritt sehen; er sieht nur Katastrophe. Er blickt zurück, nicht vorwärts, und der Sturm, den wir Fortschritt nennen, treibt ihn in die Zukunft. Giacomettis Figuren sind solche Engel: Sie werden nicht vorwärtsgetrieben, sondern zurückgerissen. Sie gehen, aber sie kommen nicht an. Sie sind unterwegs, aber das Ziel liegt hinter ihnen.
Der Raum, in dem sie stehen, ist ein Trümmerfeld, und doch ist er voller Erinnerung. Jede Skulptur ist Spur, jede Linie eine Zeugin des Verlorenen. Benjamin schrieb: „Das Gedächtnis ist nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit, sondern deren Schauplatz.“ Giacomettis Figuren sind solche Schauplätze – nicht Abbilder, sondern Orte, an denen Vergangenheit sich ereignet.
Dass die Bremer Ausstellung nun Giacomettis Landschaften neben seine Figuren stellt, ist daher mehr als eine kuratorische Entscheidung – es ist eine dialektische Setzung. Die Landschaft ist der Ursprung, der Körper das Echo. Die Berge Graubündens spiegeln sich in den Linien seiner Figuren, die Täler in den Schatten ihrer Körper. Die Natur, die ihn prägte, wird nicht abgebildet, sondern erinnert – als Struktur, als Rhythmus, als Widerhall. Die Kunsthalle zeigt damit: Giacomettis Figuren sind nicht abstrakt, sondern Kondensationen von Landschaft – von Raum, der sich in Zeit verwandelt hat.
So zeigt Das Maß der Welt letztlich, dass Giacometti die Welt nicht vermessen, sondern verfehlen wollte. Dieses Verfehlen ist seine Wahrheit. In jedem misslungenen Versuch, das Gesehene festzuhalten, liegt die Erkenntnis, dass Wirklichkeit immer schon mehr ist als ihr Bild. Darin ist er Adorno nah, der im Scheitern nicht das Ende, sondern das Kriterium der Wahrheit sah.
Kunst, so Adorno, „ist die Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“. In Giacomettis Figuren kehrt diese Magie zurück – als gebrochene, verwundete, auf das Minimum reduzierte Form. Sie sind keine Beschwörungen, sondern Nachbilder: Schatten des Menschlichen, die die Abwesenheit der Götter sichtbar machen. Und gerade darin liegt ihre säkulare Heiligkeit: Sie versprechen nichts, sie trösten nicht – und doch sind sie da.
Vielleicht ist es das, was Giacomettis Werk bis heute so gegenwärtig hält. In einer Zeit, die von Bildern übersättigt ist, in der jedes Ding sofort fotografiert, geteilt, konsumiert wird, erinnern uns seine Figuren daran, dass Sehen ein Akt der Entbehrung ist. Wir sehen nicht, indem wir besitzen, sondern indem wir verlieren. Das Sichtbare tritt erst hervor, wenn das Unsichtbare mitgedacht wird. Giacomettis Figuren sind Übungen im Verlieren – Übungen darin, nicht zu haben, sondern zu schauen.
Wer in der Kunsthalle Bremen durch die Säle geht, mag das Gewicht dieser Leichtigkeit spüren: die Schwere des Materials und das Flirren der Form. Man tritt ein in einen Raum, in dem die Skulpturen nicht ausgestellt sind, sondern warten – nicht auf uns, sondern auf niemanden. Sie sind einfach da, in ihrer verstörenden Präsenz.
Giacometti hat das Paradox der Moderne – die Gleichzeitigkeit von Abstraktion und Verzweiflung, von Distanz und Sehnsucht – in Bronze gegossen. Seine Skulpturen sind, im wörtlichen Sinn, verdichtete Zeit. Und diese Zeit ist nicht die der Ewigkeit, sondern die des Augenblicks – jenes Moments, in dem das Sichtbare kippt und das Unsichtbare durchscheint.
Am Ende bleibt ein Blick, der nicht verweilt, sondern sich verliert. Giacomettis Kunst lehrt uns nicht, was der Mensch ist, sondern dass er immer mehr und weniger ist, als er glaubt. In der Spannung zwischen Sein und Nichtsein, Nähe und Ferne, Form und Auflösung leuchtet für einen Moment jene Wahrheit auf, die Adorno das „Nichtidentische“ nannte – die Wahrheit des Ungefügten, der Riss, durch den das Licht fällt. Nicht das Licht der Erkenntnis, sondern das der Ahnung: dass wir nie ganz da sind, wo wir zu sein glauben.
Vielleicht kehren wir immer wieder zu Giacometti zurück, weil seine Figuren das sind, was von uns bleibt, wenn alles andere schweigt. Ich erinnere mich an die schmalen Silhouetten im Louisiana Museum, die im Wind über dem Meer standen – wie Zeichen einer Sprache, die die Welt längst vergessen hat. Es war ein später Nachmittag im Sommer, das Licht fiel schräg über das Wasser, und die Figuren warfen keine Schatten. Sie schienen aus dem Licht selbst gemacht, oder aus dessen Abwesenheit.
In Zürich dann, zwanzig Jahre später, das Wiedersehen: dieselben Gestalten, doch gealtert mit mir – oder vielmehr: Sie waren nicht gealtert, und das machte ihr Geheimnis aus. Sie waren außerhalb der Zeit, während ich in ihr gefangen war. Und nun, in Bremen, im Herbst 2025, begegnen sie mir wieder, und ich erkenne, dass sie nie wirklich vergangen waren. Sie haben gewartet – nicht auf mich, aber darauf, dass jemand sie wieder sieht.
Giacomettis Figuren begleiten nicht, sie beobachten uns. Ihr Schweigen ist kein Mangel, sondern ein Spiegel. Sie sind wie Adornos Kunstwerke: „fensterlose Monaden“, die nichts mitteilen und doch alles aussagen. Sie stehen in ihrer eigenen Welt – und doch sind wir es, die in ihnen erkannt werden.
Vielleicht ist es das, was sie von der Zeit erlöst: Sie tragen das Maß der Welt in sich – und zugleich das Maß unseres eigenen Verschwindens. In ihrer Fragilität liegt eine Prophezeiung: dass wir alle nur Schatten sind, die sich an eine Form klammern. Und dass diese Form, so brüchig sie auch sein mag, das einzige ist, was uns vom Nichts unterscheidet.
Die Bremer Ausstellung endet im Februar 2026. Danach werden die Leihgaben der Fondation Giacometti nach Paris zurückkehren, wo sie in einem neuen Museum ein dauerhaftes Zuhause finden. Es wird schwerer werden, sie zu sehen – aber vielleicht ist das nur gerecht. Giacomettis Figuren wollten nie leicht zugänglich sein. Sie wollten schwer sein, im Sinn von Gewicht. Sie wollten, dass man zu ihnen kommt, nicht dass sie zu einem kommen.
Und so bleibt am Ende nur die Erinnerung an eine Begegnung: an Figuren, die nicht Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen. Fragen nach dem, was ein Mensch ist, wenn er nicht mehr ist als ein Strich im Raum. Fragen nach dem, was bleibt, wenn alles andere gegangen ist. Giacometti hat diese Fragen nicht beantwortet – er hat sie in Bronze gegossen. Und das ist vielleicht alles, was Kunst vermag.

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