Vorbemerkung: Eine notwendige Klärung
In einem jüngst in der WELT erschienenen Beitrag fordert Sahra Wagenknecht „eine konservative oder im Ursprungssinn rechte Agenda“ für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Ihre Begründung: Die Begriffe links und rechts seien heute bedeutungslos geworden – links stehe mittlerweile nur noch für Identitätspolitik und Genderdiskurse, die von den materiellen Interessen der arbeitenden Menschen ablenkten. Daher müsse das BSW „jenseits von links und rechts“ stehen.
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des BSW haben wir im Freitag darauf geantwortet: Das BSW muss links bleiben. Der vorliegende Beitrag führt diese Überlegung systematisch fort und begründet – im Horizont der kritischen Theorie – warum der Verzicht auf den Begriff links nicht nur begrifflich unpräzise, sondern auch politisch gefährlich wäre.
Es geht dabei weder um Polemik noch um innerparteiliche Abgrenzung, sondern um eine konzeptuelle Klärung: Was bedeutet links – historisch, systematisch, begrifflich? Welche Verwechslungen haben zu seiner Entleerung geführt? Und warum ist gerade in Zeiten seiner Vereinnahmung durch liberale Identitätspolitik seine Rückeroberung so entscheidend?
Die leitende These lautet: Der Begriff links markiert eine unverzichtbare Orientierung im politischen Denken. Wer ihn aufgibt oder durch rechts ersetzen will – auch im vermeintlichen „Ursprungssinn“ –, verliert nicht nur ein Wort, sondern die Möglichkeit, Herrschaftsverhältnisse zu benennen und zu kritisieren. Der Begriff muss verteidigt werden – nicht als Dogma, sondern als analytisches Instrument und als Kompass politischer Praxis.
1. Die verlorene Himmelsrichtung – Zur Diagnose begrifflicher Entleerung
Kaum ein politischer Begriff ist in den letzten Jahrzehnten so entleert, so missverstanden, so geschichtslos gebraucht worden wie jener des Linksseins.
Was einst Ausdruck einer Bewegung der Aufklärung, der sozialen Emanzipation und der Vernunft war, ist heute vielfach zur Worthülse verkommen – moralisch überladen, aber politisch entkernt.
Wer sich heute links nennt, verweist oft auf Identität, auf Empfindung, auf Haltung – kaum aber noch auf die Verhältnisse, aus denen Ungleichheit, Ausbeutung und Krieg entstehen. Diese Diagnose ist zutreffend. Der Begriff ist in den Händen jener Parteien und Milieus, die ihn heute für sich reklamieren, tatsächlich hohl geworden. Doch daraus folgt nicht, dass der Begriff selbst obsolet wäre – vielmehr, dass er von jenen besetzt wurde, die ihn entstellt haben.
Die kritische Theorie hat diese Tendenz früh erkannt: die Integration oppositioneller Begriffe in die herrschende Ordnung, ihre Verwandlung in bloße Zeichen ohne transformatorische Kraft. Herbert Marcuse sprach von der „repressiven Toleranz“, die gerade dadurch neutralisiert, dass sie scheinbar alles zulässt. Theodor W. Adorno analysierte die „Kulturindustrie“, die selbst noch Kritik in Ware verwandelt.
Doch die Antwort auf Vereinnahmung kann nicht Aufgabe, sondern nur Rückgewinnung sein. Links zu sein bedeutet, auf der Seite der Veränderung zu stehen – auf der Seite derer, die nicht herrschen, sondern leben wollen.
Es heißt, die Welt vom Standpunkt der Mehrheit zu betrachten, nicht vom Standpunkt der Besitzenden.
Links zu sein heißt, an die Möglichkeit einer vernünftigen Ordnung zu glauben, die den Menschen nicht zum Mittel degradiert, sondern ihn als Zweck begreift.
2. Begriffsgeschichte – Woher „links“ kommt und was es bedeutet
Der Ursprung des Wortes links ist schlicht und zugleich symbolisch mächtig.
In der französischen Nationalversammlung von 1789 saßen links jene, die die Privilegien des Adels, der Kirche und der Monarchie abschaffen wollten; rechts jene, die sie verteidigten.
Aus dieser räumlichen Ordnung erwuchs eine politische: links bedeutete Fortschritt, Gleichheit, Demokratie; rechts stand für Bewahrung, Autorität, Hierarchie.
Dies ist der „Ursprungssinn“ des Begriffs, auf den Wagenknecht positiv Bezug nimmt. Doch dieser Ursprung lässt sich nicht umdeuten: Rechts bezeichnete nie das emanzipatorische Projekt der Moderne, sondern stets dessen Gegenteil – die Verteidigung überkommener Herrschaftsverhältnisse, die Legitimation von Ungleichheit als naturwüchsiger oder gottgegebener Ordnung.
Wer meint, rechts könne im Ursprungssinn positiv besetzt werden, verkennt diese Geschichte fundamental.
Gewiss kann konservativ im Sinne des Bewahrenden auch links sein – etwa dort, wo es um die Verteidigung erkämpfter sozialer Rechte, demokratischer Institutionen, des Friedens oder ökologischer Lebensgrundlagen geht. Max Horkheimer hat in seinen späten Schriften darauf hingewiesen, dass die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, nach einer versöhnten Gesellschaft, durchaus konservative Züge tragen kann – als Widerstand gegen die permanente Zerstörung von Lebenszusammenhängen durch die kapitalistische Verwertungslogik.
Aber rechts ist nicht identisch mit konservativ. Rechts bezeichnet eine spezifische politische Haltung: die Legitimation von Hierarchie, die Naturalisierung von Ungleichheit, die Verteidigung von Privilegien.
Seit der Französischen Revolution ist der Begriff links zur Chiffre des großen emanzipatorischen Projekts der Moderne geworden: der Befreiung des Menschen von Unmündigkeit, Ausbeutung und Gewalt.
Im 19. Jahrhundert trugen ihn die Arbeiterbewegungen, die Sozialisten, die frühen Feministinnen; im 20. Jahrhundert verband sich das Linkssein mit Antifaschismus, Friedenspolitik und demokratischem Sozialismus.
Links zu sein hieß immer, sich nicht abzufinden – mit der Welt, mit dem Elend, mit der Ungleichheit.
Es hieß, gegen jene Kräfte aufzustehen, die den Status quo für naturgegeben erklären, und an den universellen Gedanken der Aufklärung festzuhalten: dass alle Menschen gleiche Würde, gleiche Rechte und gleiche Chancen auf ein erfülltes Leben verdienen.
3. Systematische Bestimmung – Was „links“ heute bedeutet
Heute, im 21. Jahrhundert, ist der Begriff vielfach verwischt – teils bewusst entleert.
Doch im Kern bleibt er das, was er immer war: eine Haltung der Kritik an Herrschaft und Ungleichheit, die sich nicht mit der Welt abfindet, wie sie ist.
Links sein heißt:
– Machtverhältnisse sichtbar machen, Ungleichheit bekämpfen, Solidarität organisieren.
– Das Leben über den Profit zu stellen, die Arbeit über das Kapital, die Demokratie über die Märkte.
– Humanität gegen Zynismus, Vernunft gegen Ideologie, Bildung gegen Verblödung zu verteidigen.
– Demokratische Selbstbestimmung der technokratischen Verwaltung und moralischen Bevormundung vorzuziehen.
– Frieden und Kooperation statt imperialer Hegemonie und Stellvertreterkriege zu erstreben.
Links ist nicht identisch mit progressiv oder liberal. Es ist kein Lifestyle, keine Haltung, keine moralische Pose, sondern eine Richtung des Denkens und Handelns, gegründet auf Erkenntnis: auf der Einsicht, dass Freiheit nicht gegen Gleichheit zu haben ist und dass Vernunft nur dort herrscht, wo Macht begrenzt wird.
Die kritische Theorie hat dies präzisiert: Links zu sein heißt, die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren – nicht bloß Symptome zu beklagen, sondern die Strukturen freizulegen, die Ungleichheit, Ausbeutung und Herrschaft reproduzieren.
Es heißt, die Dialektik der Aufklärung zu begreifen: dass Fortschritt stets auch Regression enthalten kann, dass instrumentelle Vernunft in Barbarei umschlagen kann – und dennoch an der Möglichkeit eines vernünftigen, menschenwürdigen Lebens festzuhalten.
Links zu sein heißt, negativ-dialektisch zu denken: nicht affirmativ das Bestehende zu rechtfertigen, sondern es von seinem eigenen Anspruch her zu kritisieren – und über es hinauszuweisen.
4. Die Verwechslung von links mit liberal – Zur Kritik der Identitätspolitik
SPD und Grüne reklamieren heute das Etikett links für sich – doch sie haben seinen Inhalt vertauscht.
Statt gesellschaftliche Widersprüche aufzuheben, moralisieren sie sie.
Statt soziale Gerechtigkeit zu erkämpfen, verlagern sie Politik in den Bereich der Identität.
Statt Machtverhältnisse zu analysieren, kultivieren sie symbolische Empörung.
So wird links zur Chiffre eines moralischen Individualismus, der sich im Selbstbild erschöpft: tolerant, offen, modern.
Wagenknechts Beobachtung, links sei heute mit Gendern und Identitätspolitik konnotiert, ist deskriptiv zutreffend – doch die daraus gezogene Konsequenz ist falsch.
Nicht der Begriff ist das Problem, sondern seine Besetzung durch jene Kräfte, die ihn entkernt haben.
Das ist keine zufällige Entwicklung, sondern Ausdruck einer Klassenlage: Identitätspolitik ist die Politik jener urbanen, akademischen Milieus, deren Progressivität sich in kulturellen Codes erschöpft. Nancy Fraser hat dies als progressiven Neoliberalismus bezeichnet – eine Allianz aus kulturellem Linksliberalismus und ökonomischem Neoliberalismus, die Diversität feiert, während sie Ungleichheit reproduziert.
Doch daraus folgt nicht, dass der Begriff selbst überholt wäre. Er muss vielmehr zurückerobert werden.
Das wäre, als würde man den Begriff Demokratie preisgeben, weil autoritäre Regime sich „demokratisch“ nennen, oder den Begriff Freiheit, weil der Marktliberalismus ihn missbraucht.
Begriffe sind Kampfplätze. Sie aufzugeben heißt, das Feld kampflos zu räumen.
Denn links war nie die Politik der Lebensstile, sondern die Politik der Lebensverhältnisse.
Nicht wer die richtigen Worte benutzt, sondern wer die materiellen Grundlagen von Freiheit und Gleichheit verteidigt, ist links.
Das, was heute als progressiv gilt, ist in Wahrheit liberal – die Fortschreibung einer Ordnung, in der der Einzelne zwar alles sagen, aber wenig verändern darf.
Links hingegen zielt auf Veränderung, nicht auf Symbolik. Es ist die Kritik an jener Freiheit, die nur wenigen nützt, und der Glaube an eine andere, gemeinsame Freiheit.
5. Warum wir am Begriff festhalten müssen – Orientierung und Kritik
Wer den Begriff links aufgibt, verliert mehr als ein Wort – er verliert Orientierung, Geschichte und die Möglichkeit der Kritik.
Denn dieser Begriff markiert den Ort, von dem aus Kritik an Herrschaft überhaupt erst möglich wird.
Er benennt jenen Gegensatz, den die herrschende Ideologie unsichtbar machen will: den zwischen den Interessen der Vielen und der Macht der Wenigen.
Wagenknecht argumentiert, das BSW müsse „jenseits von links und rechts“ stehen, um die „einfachen Leute“ zu erreichen. Doch diese Formulierung birgt eine Gefahr: Sie suggeriert, als ließen sich die materiellen Interessen der Mehrheit vertreten, ohne eine klare Position im politischen Spektrum zu beziehen.
Die arbeitenden Menschen brauchen keine Partei, die ihre Orientierung aufgibt, sondern eine, die klar benennt, auf wessen Seite sie steht.
Sie brauchen keine neue Mitte, die alle und niemanden repräsentiert, sondern eine politische Kraft, die ihre Interessen gegen jene des Kapitals, der Finanzmärkte und der Rüstungsindustrie verteidigt.
Links ist keine Nostalgie, sondern ein Kompass.
Er weist dorthin, wo Politik beginnt – beim Leben der Mehrheit.
Am Begriff festzuhalten heißt, die Sprache der Emanzipation zu bewahren: die Sprache, in der noch von Gerechtigkeit, Vernunft und Menschlichkeit gesprochen werden kann, ohne in Zynismus zu verfallen.
Die kritische Theorie hat gelehrt: Begriffe sind nicht neutral. Sie prägen unser Denken, unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Handlungsmöglichkeiten.
Wer die Begriffe aufgibt, mit denen Herrschaft benannt werden kann, gibt die Kritik selbst auf.
6. Das BSW und die Verantwortung, links zu bleiben
Das Bündnis Sahra Wagenknecht steht an einem historischen Punkt – zwischen populärer Anziehungskraft und programmatischer Klarheit.
Wenn es gelingt, an das aufklärerische Erbe des Linksseins anzuknüpfen – an soziale Gerechtigkeit, an Frieden, an Demokratie und Vernunft –, kann es zu jener Kraft werden, die eine Mehrheit im Land repräsentiert.
Doch eine „rechte Agenda“, wie Wagenknecht sie vorschlägt, würde diese Möglichkeit verspielen – nicht aus moralischen, sondern aus analytischen Gründen.
Denn rechts bezeichnet systematisch jene Haltung, die Hierarchie legitimiert, Ungleichheit naturalisiert, Privilegien verteidigt.
Eine Partei, die für soziale Gerechtigkeit eintritt, kann sich nicht auf rechts berufen, ohne in einen begrifflichen Widerspruch zu geraten.
Zudem würde eine Preisgabe des Begriffs links das BSW beliebig machen. Es verlöre seine Unterscheidbarkeit: zur CDU, die konservativ ist; zur AfD, die sich als „Stimme des Volkes“ inszeniert; zur SPD, die zwischen allen Lagern oszilliert.
Die Stärke des BSW liegt gerade darin, dass es eine eindeutige Position vertritt – für soziale Gerechtigkeit, für Frieden, gegen Kriegspolitik und gegen die Herrschaft des Kapitals.
Diese Position ist links – nicht im Sinne der Grünen oder der SPD, sondern im klassischen, aufklärerischen Sinn.
Eine Bewegung, die vorgibt, „jenseits von links und rechts“ zu stehen, verliert ihre Substanz.
Das BSW darf nicht in die Falle des Ungefähren geraten, sondern muss den Begriff links mit neuem Leben füllen – mit dem Leben derer, die arbeiten, hoffen, zweifeln, kämpfen.
Links zu sein heißt, Partei zu ergreifen: für die Vielen gegen die Wenigen; für Vernunft gegen Ideologie; für Frieden gegen Krieg; für Menschlichkeit gegen Profit.
Das ist kein Etikett, sondern Haltung – und zugleich eine analytische Kategorie, ohne die politisches Denken orientierungslos wird.
Links bleiben heißt, der Aufklärung treu zu bleiben
Links zu bleiben heißt, der Geschichte der Aufklärung treu zu bleiben – nicht als Dogma, sondern als lebendige Verpflichtung.
Es bedeutet, die Kritik an Herrschaft, Ausbeutung und Krieg ins Zentrum jeder politischen Überlegung zu rücken.
Wer links ist, fragt nicht: Wer bin ich?, sondern: Was ist zu ändern – und für wen?
Darum sollte das BSW links bleiben – nicht aus Gewohnheit oder Tradition, sondern aus Vernunft.
Nicht, weil es ein schönes Wort ist, sondern weil es die einzige Orientierung bietet, die eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens und der Demokratie ermöglicht.
Begriffe zu verteidigen heißt, die Möglichkeit der Kritik zu verteidigen.
Und Kritik ist – wie Adorno schrieb – die Wahrheit über die Gesellschaft, soweit sie sich aussprechen lässt.
Wer den Begriff links aufgibt, gibt diese Wahrheit auf.
Wer ihn verteidigt, verteidigt die Möglichkeit einer anderen, vernünftigeren, menschlicheren Welt.
Denn links zu sein heißt, die Welt nicht hinzunehmen, sondern sie denkend und handelnd in eine menschlichere zu verwandeln – aus Treue zur Vernunft, gegen Zynismus, gegen Resignation, gegen die Ohnmacht, die sich für Realismus hält.
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