Rolf Becker (1935–2025): Kunst als Widerspruch

Mit Rolf Becker ist im Alter von 90 Jahren ein Künstler gestorben, der das Theater als Ort gesellschaftlicher Wahrheit begriff und dessen Biographie zeigt, welchen Preis eine solche Auffassung haben kann. Sein Tod bedeutet einen Verlust für die deutsche Theaterlandschaft ebenso wie für jene politische Öffentlichkeit, in der Kunst Haltung bewahrt. Wer ihm begegnete – auf der Bühne, bei Lesungen, auf Demonstrationen –, erlebte einen Menschen, bei dem Überzeugung keine Rhetorik war, sondern gelebte Konsequenz.

In Bremen wurde Rolf Becker in den 1960er-Jahren zu einer prägenden Figur des Theater Bremen. Von 1963 bis 1969 war er dort als Schauspieler und Regisseur engagiert, in einer Zeit, in der das Theater unter der Intendanz von Kurt Hübner zu einem Ort ästhetischer Erneuerung und politischer Zuspitzung wurde. Die Verbindung von Kunst und Zeitkritik war für Becker gelebte Praxis. Im Umfeld der Proteste gegen die Notstandsgesetze kam es 1968 zu Aktionen, bei denen der laufende Spielbetrieb bewusst unterbrochen wurde – unter anderem während einer Aufführung der Operette Der Bettelstudent, bei der aus dem Ensemble heraus gegen die Notstandsgesetze Stellung bezogen wurde. Bruno Ganz verlas damals die Resolution.

Die anhaltenden Konflikte zwischen politischem Anspruch und institutionellen Grenzen, zwischen künstlerischer Freiheit und dem Erwartungsdruck einer bürgerlichen Theaterlandschaft führten 1969 zur vorzeitigen Beendigung seines Engagements am Theater Bremen. Becker selbst verstand diese Jahre rückblickend als Teil einer „wilden Zeit“, in der künstlerische Arbeit und politischer Widerspruch untrennbar miteinander verbunden waren. Dass diese Untrennbarkeit einen Preis hatte, nahm er in Kauf.

Sein Auftritt im Film Ich bin ein Elefant, Madame (1969) verdichtete diesen Geist des Aufbruchs: den Widerspruch gegen autoritäre Strukturen, den Eigensinn der Jugend, die Suche nach einer anderen Form von Freiheit. Auch nach seinem Weggang blieb Bremen für ihn ein wichtiger Bezugspunkt. Immer wieder kehrte er in die Stadt zurück – zu Lesungen, Gedenkveranstaltungen und politischen Initiativen, zu Veranstaltungen gegen Rechts, zu Mahnwachen der Friedensbewegung. Diese Rückkehr entsprang einer anhaltenden Solidarität mit jenen, die an einer anderen Gesellschaft festhielten.

Über Jahrzehnte hinweg war Rolf Becker eine unverwechselbare Stimme der Friedensbewegung. Sein Engagement gegen Krieg, Militarisierung und Aufrüstung war konsequent und unbeirrbar. Frieden verstand er stets als soziale Frage, verbunden mit der Kritik an Ungleichheit und an Verhältnissen, die Gewalt hervorbringen. Seine Nähe zur Arbeiterbewegung und sein langjähriges Engagement in der Gewerkschaft ver.di entsprangen einer Klassensolidarität, die heute selten geworden ist.

Bis zuletzt brachte Becker diese Überzeugungen auf die Bühne des gesprochenen Wortes. In Lesungen – insbesondere russischer Autoren wie Wladimir Majakowski – hielt er an einer internationalen, widerständigen Kultur fest, die sich der Logik neuer Feindbilder verweigerte. Majakowski zu lesen in einer Zeit, in der die russische Kultur pauschal verdächtigt wird, bedeutete für Becker, an der Unterscheidungsfähigkeit festzuhalten: zwischen Herrschaft und Volk, zwischen Macht und Kultur, zwischen Regime und revolutionärer Tradition. Gegen Vereinfachung setzte er Sprache, historische Erfahrung und die Erinnerung an eine andere Möglichkeit von Gesellschaft. Wer ihn dort erlebte, hörte nicht nur einen Text, sondern die Stimme eines Menschen, der wusste, wofür er sprach.

Mit Rolf Becker verliert die Öffentlichkeit einen Künstler, der sich der bequemen Trennung von Ästhetik und Politik entzog. Leidenschaft und Reflexion, Humanität und Widerstand, Kunst und Verantwortung gingen bei ihm eine Verbindung ein, die selten geworden ist. Sein Leben erinnert daran, dass Kunst dort an Wahrheit gewinnt, wo sie bereit ist, den Konflikt auf sich zu nehmen – und dass diese Bereitschaft Menschen kostet, die nicht ersetzt werden können.

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