Es gehört zu den bitteren Ironien der Geistesgeschichte, dass das Institut, das einst den Anspruch erhob, den Zusammenhang von Erkenntnis und Herrschaft freizulegen, heute selbst in jener Vernunft verstrickt ist, die es zu kritisieren vorgab. Die „Kritische Theorie“ – ursprünglich der Versuch, die Selbstzerstörung der Aufklärung in ihrer eigenen Bewegung begrifflich zu fassen – hat sich im Prozess ihrer Institutionalisierung in eine pluralistische Sozialforschung verwandelt, die ihren Gegenstand nicht mehr verfehlt, weil sie ihn gar nicht mehr sucht. Was bleibt, ist häufig die Geste der Kritik ohne deren Substanz: eine Wissenschaft, die sich kritisch nennt, weil sie das Bestehende in immer feineren Unterscheidungen reproduziert.
I. Ursprung und Widerspruch
Als Max Horkheimer 1931 die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernahm, verband sich in seinem Programm der Anspruch interdisziplinärer Gesellschaftsanalyse mit der materialistischen Kritik an den Herrschaftsformen der Moderne. Der Marxismus sollte nicht dogmatisch wiederholt, sondern in Philosophie, Soziologie und Psychologie dialektisch durchdrungen werden. In der Emigration entstand mit Adorno die Dialektik der Aufklärung (1947), das wohl folgenreichste Manifest dieses Denkens: Die Aufklärung, die sich vom Mythos zu befreien sucht, verfällt ihm erneut in der Gestalt technischer Vernunft. Der Fortschritt wird zur zweiten Natur, die Emanzipation zur Fessel.
Dieser Gedanke der Selbstverdunkelung des Rationalen markiert das Zentrum der alten Kritischen Theorie. Sie verstand sich nicht als Fortschrittstheorie, sondern als Reflexion über den Rückfall im Fortschritt selbst. Kritik bedeutete, die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit gegen deren gesellschaftliche Unmöglichkeit zu verteidigen. Die Negativität – jener Begriff, den Adorno später in der Negativen Dialektik (1966) systematisierte – war nicht bloße Methode, sondern Ausdruck eines Denkens, das im Widerspruch seine einzige Treue zur Wirklichkeit fand. Das Ganze ist das Unwahre: In diesem Satz verdichtet sich nicht nur eine Einsicht, sondern ein Programm. Philosophie kann die Verhältnisse nicht versöhnen, weil sie selbst unversöhnt sind. Jeder Versuch, das Falsche in Begriffe zu fassen, die es befrieden, wiederholt nur dessen Gewalt.
II. Vom Ganzen zum Diskurs
Nach Horkheimers und Adornos Tod wandte sich das Institut unter neuen Direktoren einer stärker empirischen und später normativ-pragmatischen Richtung zu. Mit Jürgen Habermas, dessen Theorie des kommunikativen Handelns (1981) den theoretischen Paradigmenwechsel vollzog, verschiebt sich das Zentrum der Kritik: von der Gesellschaft auf den Diskurs, vom System auf die Sprache, vom Widerspruch auf den Konsens, von der Wahrheit auf die Geltung.
Habermas‘ Einsicht, dass Rationalität nicht notwendig instrumentell sein müsse, sondern sich in kommunikativen Prozessen der Verständigung realisieren könne, entspringt einem berechtigten Versuch, die Hoffnung der Aufklärung gegen ihre eigene Perversion zu retten. Doch dieser Versuch bedeutet zugleich, dass die Negativität des Denkens – sein Beharren auf dem Unversöhnten – in das Verfahren der Rechtfertigung überführt wird. Wo Adorno die Wahrheit in der Unmöglichkeit der Versöhnung erkannte, sucht Habermas sie in der Möglichkeit des rationalen Einverständnisses.
Der Unterschied ist nicht graduell, sondern kategorial. Adorno sah im Diskurs kein Heil, sondern eine der vielen Formen gesellschaftlicher Selbstberuhigung. Die Idee, dass unter hinreichend idealen Bedingungen ein herrschaftsfreier Dialog zur Wahrheit führen könne, verkennt, dass diese Bedingungen selbst Produkt jener Herrschaft sind, die sie zu überwinden vorgeben. Kommunikation wird zur Ersatzhandlung für Kritik, Verständigung zur Sublimierung des Widerspruchs. Die Frage nach den realen Verhältnissen – nach Ware, Arbeit, Tausch – verschwindet hinter der Frage nach den Bedingungen richtigen Sprechens.
Damit verwandelt sich die Theorie, die einst die Totalität des falschen Ganzen zu begreifen suchte, in eine Methodologie der Teilhabe am Bestehenden. Habermas‘ Diskursethik operiert mit einem Begriff von Vernunft, der sich bereits mit den Strukturen versöhnt hat, die Adorno als versteinerte Unvernunft begriff. Was als Rettung der Aufklärung auftritt, ist deren Kapitulation vor dem, was ist. Die normative Wende bedeutet nicht die Überwindung der Negativität, sondern deren Preisgabe zugunsten einer Philosophie, die ihre Zustimmung zum Ganzen hinter prozeduralen Regeln versteckt.
III. Anerkennung und die Moral der Anpassung
Mit Axel Honneths Kampf um Anerkennung (1992) vollzieht sich die zweite große Wendung: Die Pathologien der Moderne werden nicht mehr im Verhältnis von Arbeit, Ware und Ideologie gesucht, sondern in Defiziten intersubjektiver Wertschätzung. Der Maßstab der Emanzipation verschiebt sich von der Aufhebung der Verhältnisse auf die moralische Heilung der Subjekte. Gesellschaftskritik wird zur Anerkennungstheorie, Ökonomie zur Psychologie, Struktur zur Identität.
Diese Verschiebung hat weitreichende Folgen. Denn Anerkennung ist, so sehr sie auf Gerechtigkeit zielt, zugleich der Ort, an dem Kritik sich entmächtigt. Der Konflikt, der einst strukturell gedacht war, wird psychologisiert; der Widerspruch, der der Gesellschaft immanent war, wird externalisiert in moralische Appelle. Gesellschaft erscheint nicht mehr als durchherrschte Totalität, sondern als Mosaik von Identitäten, deren jeweiliger Anspruch auf Achtung zum Surrogat der Kritik geworden ist.
Honneth verkehrt damit das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Wo die alte Kritische Theorie die Gewalt der Verhältnisse gegen die Ansprüche des Subjekts in Stellung brachte, verspricht die neue die Versöhnung durch gelingende Anerkennung. Doch diese Versöhnung ist teuer erkauft: Sie setzt voraus, dass die Gesellschaft im Kern bereits gut sei, nur ihre Anerkennungsstrukturen defizitär. Das Kapital, der Tausch, die Verwertungslogik – all das verschwindet hinter der Frage, ob die Subjekte einander genügend respektieren.
In dieser Transformation geht der materialistische Impuls der alten Kritischen Theorie verloren. Die Dialektik, die einst das Bewusstsein gegen die Versöhnung in Stellung brachte, wird durch ein normatives Ethos ersetzt, das im Recht auf Anerkennung die letzte Form des Ethischen entdeckt. Kritik wird therapeutisch, und indem sie es wird, verliert sie ihren Stachel. Was bleibt, ist eine Philosophie der Identität, die nicht begreift, dass Identität selbst – das Zwanghafte der Selbsterhaltung, das Immergleiche im Verschiedenen – zur Pathologie gehört, die es zu kritisieren gälte.
IV. Pluralität als Ideologie
Mit der jüngsten Generation am Institut – von Stephan Lessenich bis Eva von Redecker, von Rainer Forst bis zu den Vertretern der „dekolonialen Wende“ – hat sich die normative Verschiebung in eine identitätspolitische Aufsplitterung verwandelt. Begriffe wie Dekolonialität, Queerfeminismus, Intersektionalität oder globale Gerechtigkeit dienen heute als programmatische Chiffren einer Öffnung, die zwar den Anspruch der Inklusivität erfüllt, aber das kritische Zentrum des Projekts vollends entkernt.
Das Institut, das einst die Einheit von Theorie und Gesellschaft im Zeichen ihrer Negation dachte, ist zur Plattform pluraler Diskurse geworden, in denen sich das „Kritische“ im bloß Gegenwärtigen verliert. Die Verwissenschaftlichung der Moral ersetzt die Kritik der Ideologie; der „globale Süden“ wird zur neuen Metapher des Anderen, das – paradox genug – nur in seiner akademischen Repräsentation auftritt, niemals aber als reales Verhältnis von Ausbeutung und Herrschaft begriffen wird.
Man muss die Frage stellen: Was ist gewonnen, wenn das Institut sich für „diverse Perspektiven“ öffnet, dabei aber den Begriff der Totalität aufgibt? Die Antwort lautet: eine Vielheit ohne Einheit, eine Kritik ohne Gegenstand, eine Theorie ohne Wahrheitsanspruch. Jede Perspektive wird anerkannt, sofern sie sich als marginalisiert ausweisen kann; jede Identität erhält ihre Stimme, sofern sie das Ganze nicht mehr in Frage stellt. Die neue Pluralität ist das administrative Ideal des späten Kapitalismus: Sie integriert das Andere, indem sie es zählt, katalogisiert, repräsentiert – und gerade dadurch neutralisiert.
Die identitätspolitische Wende vollzieht methodisch, was Honneth normativ vorbereitet hatte: die Auflösung der Gesellschaftskritik in eine Vielzahl partikularer Anerkennungskämpfe. Doch was hier als Radikalisierung der Kritik auftritt, ist deren Liquidation. Denn Identitätspolitik – so notwendig die Kritik an Rassismus, Sexismus und postkolonialer Herrschaft auch ist – operiert mit einem Begriff von Identität, der das Subjekt gerade dort festschreibt, wo es befreit werden sollte. Die Rede von „queeren“, „migrantischen“ oder „marginalisierten“ Perspektiven verfestigt jene Zuschreibungen, die sie zu überwinden vorgibt. Sie macht aus der Erfahrung der Ausgrenzung ein epistemisches Privileg und verwandelt damit Leiden in kulturelles Kapital.
Dabei wiederholt sich eine alte Figur: Die Unterdrückten werden aufgefordert, sich als solche zu artikulieren, um anerkannt zu werden. Doch diese Anerkennung geschieht um den Preis, dass sie ihre Unterdrückung bestätigen müssen. Identität wird zum Fetisch, der die realen Verhältnisse – Lohnarbeit, Prekarisierung, globale Arbeitsteilung – verdeckt. Die Frage, als was jemand spricht, ersetzt die Frage, was gesagt wird. Die Wahrheit wird relativiert zur „situierten Perspektive“, und in dieser Relativierung verschwindet der Anspruch auf Objektivität, der einst die Bedingung jeder Kritik war.
Besonders aufschlussreich ist die methodische Konsequenz dieser Wende: Die empirische Sozialforschung, die sich nun „kritisch“ nennt, verzichtet weitgehend auf die Analyse der ökonomischen Strukturen, die das Leben der Menschen bestimmen. Stattdessen werden „Narrative“ gesammelt, „Stimmen“ dokumentiert, „Erfahrungen“ sichtbar gemacht. Diese Verfahren sind nicht wertlos – aber sie sind blind für das, was Adorno die „objektive Tendenz“ nannte: jene gesellschaftliche Dynamik, die hinter dem Rücken der Subjekte wirkt und ihre vermeintlich authentischen Erfahrungen erst hervorbringt.
Die dekoloniale Kritik etwa, wie sie am Institut praktiziert wird, bleibt oft beim moralischen Vorwurf stehen: Der Westen habe den Rest der Welt unterdrückt, seine Perspektive universalisiert, seine Kategorien aufgezwungen. Das ist richtig – aber es ist nicht genug. Denn die Frage, warum diese Herrschaft möglich wurde, wie sie sich reproduziert, welche ökonomischen Mechanismen sie stabilisieren, wird kaum gestellt. Stattdessen erscheint „Dekolonialität“ als kulturelle Geste: Man zitiert Autoren aus dem globalen Süden, man kritisiert den Eurozentrismus, man fordert „epistemische Gerechtigkeit“ – und übersieht dabei, dass die materielle Ausbeutung fortbesteht, gleichgültig gegenüber der Zusammensetzung der Literaturverzeichnisse.
Was als Fortschritt gilt, ist in Wahrheit die Normalisierung der Kritik. Die Vielfalt der Perspektiven verwandelt sich in jenes plurale Arrangement, das der Liberalismus stets anstrebte: Jede Stimme wird gehört, sofern sie das Ganze nicht mehr infragestellt. Die neue Moral der Pluralität steht – unausgesprochen – unter dem Gesetz der Integration. Sie duldet das Andere, um es zu entschärfen; sie feiert die Differenz, um sie zu verwalten.
V. Die Treue zum Unversöhnten
Inmitten dieser Entwicklung haben wenige an der alten Dialektik festgehalten. Hermann Schweppenhäuser, Schüler und Herausgeber Adornos, bestand unermüdlich darauf, dass die Sprache der Kritik selbst negativ bleiben müsse – als Widerstand gegen den Sog der Vermittlung. Für ihn war das Nicht-Identische kein moralischer Begriff, sondern die sprachliche Spur des Unversöhnten. Seine Maxime lautete: „Kritik, die sich versteht, hört auf, Kritik zu sein.“ Damit meinte er nicht die Dunkelheit um ihrer selbst willen, sondern den Widerstand gegen jene falsche Klarheit, die das Denken dem Bestehenden angleicht.
Rolf Tiedemann, Adornos engster editorischer Begleiter, bewahrte in seiner Arbeit an Benjamin und der Dialektik der Aufklärung die philologische Strenge eines Denkens, das seine Wahrheit nicht im Fortschritt, sondern in der Rettung des Fragments sah. Auch er kritisierte die „Domestizierung der Theorie“ im Zeichen der Diskursethik. Für Tiedemann war die Treue zum Text zugleich Treue zu jenem Moment, in dem das Denken sich dem Zugriff der Synthesis entzieht.
Karl Heinz Haag schließlich – der wohl systematischste der zweiten Generation – versuchte, die materialistische Dialektik gegen die normative Auflösung zu verteidigen. In Der Fortschritt in der Philosophie (1983) hielt er an der Negativität als „Form des Unversöhnlichen“ fest: Philosophie müsse unabschließbar bleiben, weil die Gesellschaft, die sie begreift, nicht versöhnt ist. Wo Habermas den Konsens suchte, beharrte Haag auf dem Widerspruch; wo Honneth die Anerkennung feierte, verteidigte Haag die Erfahrung der Nicht-Identität.
Diese Denker, von der institutionellen Philosophie kaum mehr rezipiert, bewahren jenes Moment, das die Kritische Theorie einst ausmachte: die Treue zur Erfahrung des Nicht-Identischen. Sie lehren, dass Wahrheit nicht kommuniziert, sondern nur erlitten werden kann; dass Kritik, die verstanden werden will, sich selbst missversteht; dass die Philosophie ihre Würde nur bewahrt, wenn sie dem Druck widersteht, nützlich zu sein.
VI. Die Selbstvergewisserung der Kritik
Wäre es nicht verfehlt, die neueren Strömungen der Gesellschaftskritik bloß als Irrweg zu verurteilen? Reagieren sie nicht auf reale Blindheiten der alten Theorie – auf deren eurozentrische Selbstbeschränkung, ihren Mangel an Geschlechter- und Kolonialkritik, ihre ästhetische Verschlossenheit gegenüber dem Populären?
Die Frage ist berechtigt, und ihre Antwort erfordert Differenzierung. Ja, die alte Kritische Theorie hatte blinde Flecken. Ihre Fixierung auf die Hochkultur, ihre Vernachlässigung der Geschlechterverhältnisse, ihre europäische Perspektive – all dies ist heute kaum mehr zu rechtfertigen.
Doch der Versuch, die alten blinden Flecken zu korrigieren, droht selbst zur Blindheit zu werden: zur Blindheit gegenüber dem, was diese Theorie einst sah. Die Behebung ihrer Defizite gerät zur Preisgabe ihrer Stärke – der Fähigkeit, das Einzelne im Lichte des Ganzen zu denken. Was einst Schweppenhäuser als die „negativ-dialektische Anstrengung des Begriffs“ bezeichnete, verflacht im Zeichen intersektionaler und postkolonialer Vielfalt zur affirmativen Verwaltung der Unterschiede.
Adorno schrieb, Philosophie müsse „im Antagonismus zwischen der Sehnsucht nach dem Ganzen und der Einsicht in dessen Unwahrheit“ verharren. Diese Spannung ist heute abhandengekommen. Was bleibt, ist die Bejahung des Fragments – aber ohne die Dialektik des Ganzen. Die alte Kritische Theorie war durchzogen von Trauer, weil sie die Unmöglichkeit der Versöhnung kannte; die neue ist optimistisch, weil sie sich mit der Vielheit begnügt. Haag hatte früh davor gewarnt, dass eine Kritik, die das Totalitätsbewusstsein aufgibt, unweigerlich in bloße Moral oder in administrierte Wissenschaftlichkeit zurückfällt.
Doch diese Genügsamkeit ist trügerisch. Denn das Ganze – die kapitalistische Totalität, die jeden Winkel der Welt durchdringt – existiert weiterhin. Es verschwindet nicht dadurch, dass man es aus dem Blick verliert. Die Pluralisierung der Perspektiven ist keine Überwindung der Herrschaft, sondern deren Verfeinerung. Sie gibt jedem Partikularen sein Recht, um zu verschleiern, dass das Universale – das Kapital, der Tausch, die Verwertung – längst gewonnen hat. Tiedemann hat dieses Moment einmal als die „Selbstvergessenheit der Vernunft“ bezeichnet: das Vergessen der eigenen historischen Negativität im Namen der kulturellen Sensibilität.
Vielleicht ist darin der wahre Bruch zu erkennen: Der Verlust des Negativen bedeutet nicht nur einen theoretischen, sondern einen ästhetischen Rückfall. Das Denken wird glatt, anschlussfähig, partizipativ – und verliert gerade dadurch die Fähigkeit zu verletzen. Es fügt sich ein in jenen akademischen Betrieb, der Kritik als Ressource bewirtschaftet: Man forscht über Ungleichheit, solange die Drittmittel fließen; man kritisiert den Kapitalismus, solange die Stelle befristet ist; man fordert Dekolonialität, solange die Konferenz in Berlin stattfindet.
VII. Überleben als Einspruch
Die Kritische Theorie, wenn sie ihrem Namen treu bleiben will, darf nicht zum Sprachrohr der Gegenwart werden. Sie muss die Gesellschaft in dem Moment kritisieren, in dem sie sich selbst darin erkennt. Kritik ohne das Moment des Leidens ist Affirmation; Theorie ohne Negativität ist Verwaltung. Was fehlt, ist nicht die Sensibilität für das Partikulare, sondern der Mut zum Universalen – jener Wahrheitsanspruch, der sich nicht relativieren lässt durch den Hinweis auf „situierte Perspektiven“.
Vielleicht liegt die Zukunft der Kritischen Theorie nicht in Frankfurt, sondern in ihrer Erinnerung. Dort, wo Schweppenhäuser, Tiedemann und Haag gegen den Strom ihrer Zeit dachten, lebt das alte Moment der Unversöhnlichkeit fort – das Bewusstsein, dass jede Wahrheit eine Wunde ist, die nicht heilen darf, weil ihre Heilung die Versöhnung mit dem Falschen bedeutete. Schweppenhäuser sprach von der „Wahrheit als Schmerz“, einer Denkbewegung, die sich nicht im Fortschritt, sondern in der Negativität des Gedankens selbst vollzieht. Tiedemann sah darin den letzten Rest von Metaphysik im Denken Adornos: das Beharren auf dem Nichtidentischen als Widerstand gegen das Identische. Und Haag erkannte früh, dass wahre Kritik nur dort beginnt, wo sie aufhört, politisch nützlich zu sein.
Die Aufgabe wäre dann, dem Vergangenen seine Zukunft zurückzugeben – nicht als Wiederkehr, sondern als Einspruch gegen das, was sich als Gegenwart installiert hat. Nur in dieser Form könnte sich die Kritische Theorie selbst treu bleiben: als Denkbewegung gegen den Fortschritt, als Beharren auf dem, was nicht ist, als Versuch, die Welt zu erkennen, indem man ihr widerspricht.
Denn Wahrheit, wenn es sie gibt, ist nicht das, was alle anerkennen, sondern das, was keiner auszusprechen wagt. Sie ist nicht der Konsens, sondern der Riss im Konsens; nicht die Integration, sondern deren Scheitern; nicht die Versöhnung, sondern das Unversöhnliche selbst.
Kritische Theorie, die diesen Namen verdient, beginnt dort, wo Anpassung endet – im Widerstand gegen die Zumutung, dass das Bestehende das einzig Mögliche sei.
Doch dieser Widerstand bleibt nicht äußerlich: er verwandelt sich in das Denken selbst, das sich weigert, zu verstummen.
Nachtrag: Über die Möglichkeit des Denkens
Vielleicht ist die letzte Aufgabe der Kritik nicht mehr, die Welt zu verändern, sondern sie zu überleben, ohne sich ihr gleichzumachen. Denn das Denken steht, wo die Negativität verschwindet, im Bann dessen, was es erkennen will. Wenn Kritik recht behalten will, muss sie sich selbst in Frage stellen – nicht um sich zu läutern, sondern weil sie die Wunde der Welt nicht anders ertragen kann, als indem sie sich in ihr erkennt.
Das Wahrheitsmoment der Negativität bleibt, dass sie die Unmöglichkeit von Versöhnung nicht in moralischer Entrüstung, sondern im Denken selbst austrägt. Wer im Namen des Guten argumentiert, hat die Wahrheit schon verraten: Sie ist nicht das Ziel, sondern das Nebenprodukt eines Bewusstseins, das den Schmerz nicht verdrängt. Das Leiden ist die letzte Objektivität – was an Subjektivität in der Gesellschaft verblieb, ist das Echo ihrer Verstummung.
Doch auch das Negative bedarf der Vermittlung. Es kann nicht im bloßen Nein verharren, ohne in die Pose zu verfallen, die es bekämpft. Hier beginnt die Dialektik der Hoffnung: nicht als Fortschrittsglaube, sondern als Beharren im Unmöglichen, als Gedanke, der sich weigert, das Ende zu akzeptieren, das die Welt ihm diktiert. Der Gedanke an Befreiung ist selbst unfrei, wo er sich von der Wirklichkeit absondert.
Vielleicht ist der Ort der Philosophie heute der des Erinnerns – Erinnerung an das, was nicht aufgegangen ist, an die Möglichkeit, die die Geschichte ausgelöscht hat. In dieser Erinnerung liegt keine Erlösung, wohl aber der Widerstand gegen das Nützliche. Denn was nützt, bleibt dem Gesetz der Verwertung unterworfen, und das Unnütze allein bewahrt das Menschliche. Philosophie, die keinem Zweck dient, dient vielleicht noch dem Menschen.
So überlebt die Kritische Theorie – wenn überhaupt – nicht als Institut, sondern als Eigensinn des Gedankens, der sich seiner eigenen Ohnmacht bewusst bleibt. Sie ist, in Adornos Worten, „das Denken, das sich seiner Unmöglichkeit nicht schämt“. Ihr letzter Ort ist nicht der Diskurs, sondern das Schweigen, in dem das Leiden spricht.
Und doch – vielleicht birgt dieses Schweigen den Rest einer Sprache, die das Leiden nicht verrät. Nicht als Hoffnung, sondern als Erinnerung daran, dass das Denken, solange es nicht verstummt, noch nicht aufgegeben ist.che sei.

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